Tilmann Galler, Kapitalmarktexperte bei J.P. Morgan Asset Management blickt einmal im Monat auf die aktuellen Entwicklungen der Märkte.
Treibstoff für die Märkte
Lohnt es sich noch, in den Börsenexpress einzusteigen, der immer weiter befeuert wird?
Die Märkte haben 2025 verstanden, dass geopolitische Feindseligkeiten zwar die Schlagzeilen dominieren, aber letztendlich andere Kräfte im Spiel sind, die Kurse an den Kapitalmärkten zu treiben. Denn einer stabilen Wirtschaft wird aktuell von den politischen Entscheidungsträgern in großem Umfang geld- und fiskalpolitischer Treibstoff zugeführt. Tatsächlich haben wir noch nie zuvor außerhalb einer Rezession Haushaltsdefizite oder Zinssenkungen in dieser Größenordnung erlebt.
Die stabilitätsorientierte Konjunkturpolitik der vergangenen Jahrzehnte wurde also auf breiter Basis zu Grabe getragen. Bislang wurde die Wirtschaft hauptsächlich in Phasen konjunktureller Schwäche, wenn etwa die Arbeitslosigkeit stieg, von staatlicher Seite gestützt. Sobald jedoch die konjunkturelle Erholung einsetzte, wurden die staatlichen Haushalte wieder konsolidiert. Mit der ersten Präsidentschaft Trumps und den Erfahrungen mit der Pandemie hat sich das jedoch nachhaltig geändert. Im Verhältnis von Haushaltsdefizit und Arbeitslosigkeit in den USA kann das sehr schön beobachtet werden: so schwillt seit geraumer Zeit das Defizit weiter an – trotz stabilem Arbeitsmarkt und boomender Konjunktur. In Deutschland können wir einen ähnlichen Trend seit vier Jahren beobachten.
US-Bürger werden im nächsten Jahr die persönlichen Vorteile der fiskalischen Anreize spüren, wenn die One Big Beautiful Bill zu erheblichen Steuererleichterungen führt. Dieser Schub für das Nettoeinkommen dürfte die Konsumnachfrage stützen, die bereits durch die Vermögenseffekte zweistelliger Aktien- und Hauspreisgewinne gestützt wird. Auch auf der Zinsseite kommt Entlastung. Unter intensivem politischem Druck ist die US-Notenbank (Fed) dabei, die Leitzinsen wieder auf „neutral“ zu senken – was einem Niveau von drei Prozent entspricht.
In Kontinentaleuropa dürfte sich das Wirtschaftswachstum in 2026 ebenfalls etwas beschleunigen. Die enormen fiskalpolitischen Programme in Infrastruktur und Verteidigung, die 2025 in Deutschland angekündigt wurden, werden ihre positive Wirkung auf die Nachfrage entfalten.. Der Rest Europas will ebenfalls bis 2035 mehr für die Verteidigung ausgeben. Die fiskalischen Anreize erklären auch, warum Südeuropa, das den größten Teil des EU-Wiederaufbaufonds erhalten hat, in den letzten Jahren so gut abgeschnitten hat.
Auch Asien liefert geld- und fiskalpolitischen Treibstoff. Die neue Premierministerin in Japan ist von der Notwendigkeit einer anhaltenden lockeren Geld- und Fiskalpolitik fest überzeugt.
So wird dem globalen Wirtschaftsmotor immer mehr Treibstoff zugeführt, wodurch das Wirtschaftswachstum im Laufe des Jahres 2026 wieder an Dynamik gewinnen sollte. Für die Aktienmärkte sind das grundsätzlich positive Rahmenbedingungen.
Diese außerhalb einer Krise beispiellose Konjunkturpolitik ist jedoch nicht ohne Risiken. Wie bei einer historischen Dampflokomotive kann die übermäßige Treibstoffzufuhr zu zwei Desastern führen: Entweder kommt es zu einer Überhitzung und der Kessel platzt, oder die Geschwindigkeit steigt zu stark und führt zum Entgleisen. Die Geschichte bietet hier genügend Anschauungsmaterial. In den 1970er und Anfang der 2020er Jahre führten starke staatliche Anreize zu einer Überhitzung der Wirtschaft und steigenden Verbraucherpreisen. In den 1920er und den 1990er Jahren erlebten wir eine Beschleunigung bei Anstieg der Vermögenspreise und letztendlich der Bildung von Vermögensblasen.
Für Anlegerinnen und Anleger stellt sich für das kommende Jahr nun die Frage, ob es sich noch lohnt trotz Inflationsrisiken und hoher Vermögenspreise in den Börsenexpress einzusteigen. Die Aussicht auf eine stabile Konjunktur und robuste Unternehmensgewinne dank üppiger Treibstoffzufuhr durch Geld- und Fiskalpolitik rechtfertigt weiterhin eine zumindest neutrale Gewichtung von Aktienrisiken. Doch Diversifikation und Risikomanagement für das Anlageportfolio gewinnen an Relevanz. Denn es ist schwierig, den genauen Punkt zu identifizieren, an dem rationale Begeisterung zu irrationaler Überschwänglichkeit wird. Noch schwieriger ist es, den Zeitpunkt einer Kurve von Euphorie zu Verzweiflung zu bestimmen.
Tilmann Galler ist globaler Kapitalmarktstratege bei
J.P. Morgan Asset Management in Frankfurt