Die Pandemie und die Energiekrise haben die Staats- und Regierungschefs der Region aufgerüttelt und einer langen Periode strenger Sparmaßnahmen und negativer Zinssätze ein Ende gesetzt.
Europäische Aktien entwickelten sich in den 18 Monaten ab Ende 2021 bei weitem besser als US-Aktien. Während sie zunächst von einer globalen Rotation aus Growth zu Value-Aktien begünstigt wurden, waren in jüngerer Zeit Aufwärtskorrekturen bei den Gewinnerwartungen für die Dynamik verantwortlich, weil Europa viel besser als erwartet ohne Gas aus Russland ausgekommen ist. Doch seitdem haben die USA die Nase vorn und europäische Aktien werden heute mit nahezu rekordverdächtigen Abschlägen gegenüber ihren US-Pendants gehandelt. In diesem Artikel stellen wir die Frage, ob die Zeit Europas im Rampenlicht eine kurze Phase war. Unserer Ansicht nach haben sich die mittelfristigen Aussichten der Region auf struktureller Ebene verbessert. Anlegende könnten gut beraten sein, dieses ungeliebte Segment des globalen Aktienmarktes einer strategischen Neubewertung zu unterziehen.
Das Ende der Flaute
Jüngere Anlegende oder Anlegende mit kurzem Gedächtnis werden sich nicht daran erinnern, dass europäische Aktien eine zeitlang die Renditetreiber in Portfolios waren. Zwischen der globalen Finanzkrise und der Corona-Pandemie stieg der S&P 500 mit einer jährlichen Rate von 11%, gegenüber 2% für den MSCI Europe (in USD).1 Die Aktienkurse stagnierten wegen der schwachen Ergebnisse. Im S&P stiegen die Gewinne durchschnittlich um 14% pro Jahr, während europäische Unternehmen diese Wachstumsrate während des gesamten Jahrzehnts nicht erreichten2.
Europäische Aktien waren aber nicht immer die Nachzügler. Aktienanlegende mit besserem Gedächtnis werden sich daran erinnern, dass europäische Indizes nach dem Dotcom-Boom die Lieblinge unter den entwickelten Märkten waren. Von 2003 bis 2007 verzeichnete der MSCI Europe eine annualisierte Kursrendite von nahezu 20%, beinahe doppelt so viel wie der S&P 500 (Abb. 1). Auch die nachlaufenden Gewinne wuchsen im Durchschnitt mit einer erstaunlichen Rate von 26% pro Jahr, was wiederum fast doppelt so hoch war wie das Gewinnwachstum des S&P 500. Wir gehen zwar nicht davon aus, dass Europa zu einem Gewinnwachstum zurückkehrt, es lohnt sich aber in Erinnerung zu behalten, dass der Aktienmarkt der Region nicht immer ein Underperformer gewesen ist.
Haushaltsdisziplin war ein wichtiger Faktor für die „verlorene Dekade“ in Europa
Angesichts der makroökonomischen Lage war die Stagnation in Europa nicht überraschend. Die Eurozone taumelte aus der globalen Finanzkrise direkt in ihre eigene Staatsschuldenkrise, die eine lange Phase restriktiver Haushalte auslöste. Das Ausmaß der fiskalischen Zurückhaltung bei den Investitionen, Beschäftigung und Gehältern im öffentlichen Sektor war dramatisch (Abb. 2).
Die stark kontraktive Fiskalpolitik zwang die europäischen Notenbanken, ihre Geldpolitik lockerer zu gestalten, um ihr Inflationsziel zu erreichen – ohne Erfolg. Sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Lage entwickelte sich anders als in den USA, und immer häufiger wurde der Begriff des „US-Exzeptionalismus“ verwendet, um die Outperformance der Volkswirtschaft und der Aktienmärkte in den USA zu beschreiben, was wiederum den Dollar unter Aufwertungsdruck setzte.
Die sektorale Struktur war nicht hilfreich
Die in vielen der europäischen Benchmarks dominanten Sektoren litten nach der Finanzkrise am stärksten unter dem niedrigen Wachstum und den niedrigen Zinssätzen. Die sektoriale Zusammensetzung der europäischen Aktienindizes tendiert zu Finanzwerten, Energie, Industrie und Bergbau (Abb. 3). Die Einführung von Null- oder Negativzinsen zur Bekämpfung von Deflationsrisiken ließ die Eigenkapitalrenditen der Banken einbrechen, und in den europäischen Benchmarks gab es leider kaum Technologiewerte, für die die Anlegenden weltweit in einer Lage mit sehr wenig Wachstum zur Zahlung eines immer höheren Aufschlags bereit waren.
Die Zeiten haben sich geändert
Aufgrund der jüngsten strukturellen Veränderungen könnte Europas Platz im Rampenlicht mehr sein als eine lediglich einmalige Erscheinung. Mit einer Reform des institutionellen Rahmens der EU wurde der Weg für die gemeinsame Emission von Schuldtiteln zur Finanzierung bestimmter Projekte freigemacht, was mittelfristig drastische Veränderungen für die wirtschaftliche Rolle der Finanzpolitik bewirkt. Ein Beispiel ist der Aufbauplan (NextGenerationEU), mit dem Mitgliedstaaten Geld für Investitionsprojekte zur Verfügung gestellt wird, wenn sie bestimmte Strukturreformen durchführen. Die Summen, um die es dabei geht, sind gewaltig – die potenziellen Zuschüsse für Italien belaufen sich auf 5% seines BIP des Jahres 2021. Die Bindung des Programms an Bedingungen und die Art der Schuldtitel (die auf supranationaler Ebene begeben werden) könnten langfristig auch die Produktivität steigern. So musste Italien, um Zuschüsse aus dem Konjunkturprogramm zu erhalten, eine Reihe von Reformen seines Justizsystems durchführen, das häufig für die mangelhafte Kapitalallokation, das schleppende Wachstum und die geringe Produktivität verantwortlich gemacht wurde.
In 2022 konnte es so wirken, als ob die Fortschritte durch die mit einem Krieg vor den Toren Europas verbundenen Probleme zunichte gemacht würden, als Russlands Einmarsch in der Ukraine zu steigenden Energiekosten führte. Es sah so aus, als ob die Region über längere Zeit mit hohen Gaspreisen und der Gefahr von Rationierungen konfrontiert sein würde. Während sich die Auszahlung des Wiederaufbaufonds aufgrund von Material- und Arbeitskräftemangel sowie erhöhten Zinssätzen verzögert hat, wird sich die fiskalische Unterstützung nun über einen längeren Zeitraum erstrecken.
Allerdings kam Europa überraschend gut zurecht. Nachdem russisches Pipelinegas erfolgreich durch amerikanisches LNG ersetzt wurde, überlebte Europa mit ein wenig erschöpften Gastanks in den letzten zwei Wintern. Das vorsichtige Verhalten der Verbraucher:innen und der Industrie sowie das warme Wetter führten dazu, dass im Vergleich zu den normalen saisonalen Mustern nur verhältnismäßig wenig abgerufen wurden. Infolgedessen sind die Großhandelspreise für Gas wieder auf das Niveau zurückgekehrt, auf dem sie vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine lagen.
Eine weitere Aktion der europäischen Regierungen war das REPowerEU-Programm, welches im Frühjahr 2022 angekündigt wurde und zusätzliche Ausgaben vorsah. Der Green-Deal-Industrieplan, der eine Reaktion auf den US Inflation Reduction Act darstellt, schafft neben anderen Umweltschutzzielen Anreize für die Produktion sauberer Energie in Europa.
Diese gemeinsamen Ausgabenprogramme dürften nicht nur das mittelfristige nominale Wachstum in der Region antreiben, sondern verringern unserer Ansicht nach auch das Risiko eines Auseinanderbrechens der Eurozone. Damit ist unserer Ansicht nach eine Reduzierung der Risikoprämien bei Anlagewerten in der Eurozone gerechtfertigt. Einfach ausgedrückt: Populist:innen in Ländern wie Italien werden es schwerer haben, eine gegen die EU gerichtete Stimmung unter den Wähler:innen zu schüren, solange die Vorteile der EU-Mitgliedschaft so offensichtlich sind.
Die Rentenmärkte haben auf die Veränderungen reagiert, die Aktienmärkte sind nicht ganz überzeugt
Die Anleihemärkte scheinen sich einig zu sein, dass sich die Eurozone aus ihrem Trott mit geringem Wachstum und niedriger Inflation befreit hat. 5y5y-Euro-Inflations- und Zinsswaps sind gestiegen und liegen nun viel näher am US-Niveau (Abb. 4), und die mittelfristigen Erwartungen für den Einlagensatz der EZB haben sich auch auf einem Niveau eingependelt, das seit der Finanzkrise nicht mehr erreicht wurde.
Zwar haben die Anleihemärkte die verbesserten Aussichten für das nominale Wachstum erkannt, im MSCI Europe werden hingegen noch fast alle Sektoren mit einem überdurchschnittlichen Abschlag gegenüber dem US-Markt gehandelt (Abb. 5). Wenn die Preise für Anleihen stimmen und wir in den nächsten zehn Jahren höhere Durchschnittszinsen sehen als im letzten Jahrzehnt, könnte dies die Aktienrenditen in einem viel breiteren Spektrum von Sektoren unterstützen als es bei Übermacht von Growth- Titeln in den letzten Jahre der Fall war. In Anbetracht der Sektorenzusammensetzung Europas würde eine Rotation in Richtung Value die Performance des europäischen Aktienmarktes unterstützen.
Abgesehen von Value bieten auch die Luxusgüterunternehmen des Kontinents sowie die steuerlich geförderten Klimatechnik-und Halbleiterunternehmen Chancen für Anlegende, die eine Neubeurteilung der europäischen Märkten vornehmen.
Fazit
Unserer Ansicht nach haben sich die mittelfristigen Aussichten Europas strukturell verbessert. Die Pandemie und die Energiekrise haben die Staats- und Regierungschefs der Region aufgerüttelt und einer langen Periode strenger Sparmaßnahmen und negativer Zinssätze ein Ende gesetzt. Dies dürfte die langfristigen nominalen Gewinne in Europa in einer Weise stützen, die in den derzeitigen Bewertungen nicht berücksichtigt werden. Aus diesem Grund sind wir der Meinung, dass es zwar richtig für Anlegende war, die Aktien des Kontinents während der letzten zehn Jahre zu meiden, sie heute jedoch die Rolle europäischer Aktien in ihren Portfolios überdenken sollten.