Obwohl das Wachstum langsamer war, als viele zu Beginn des Jahres 2024 erwartet hatten, scheint ein Nachlassen eines Teils des Gegenwindes wahrscheinlich.
Einführung
Zu Beginn des Jahres 2024 waren wir optimistisch, was die Erholung Europas anbelangt. Das nach wie vor starke nominale Lohnwachstum und die niedrigere Inflation ließen die Realeinkommen steigen. Wir hofften darauf, dass dies zu mehr Vertrauen und höheren Konsumausgaben führen würde. Für das verarbeitende Gewerbe wurde eine gewisse Entlastung durch niedrigere Gaspreise und weltweit steigende Nachfrage nach Gütern erwartet. Wir erwarteten auch eine Beschleunigung der Auszahlungen aus dem Wiederaufbaufonds, um die Gesamtnachfrage zu stützen.
Bis heute hat die Erholung jedoch noch nicht so recht Tempo aufgenommen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher halten sich nach wie vor mit Ausgaben zurück, und das verarbeitende Gewerbe befindet sich noch immer in der Flaute. Die Auszahlungen aus dem Wiederaufbaufonds sind zwar wieder gestiegen, bleiben aber hinter dem von der Europäischen Kommission erwarteten Tempo zurück.
Wir gehen aber dennoch nicht davon aus, dass die Erholung schon wieder vorbei ist. Während das verarbeitende Gewerbe nach wie vor mit strukturellen Problemen konfrontiert ist, dürfte der nachlassende Inflationsdruck zu schnelleren Zinssenkungen seitens der Europäischen Zentralbank (EZB) führen. Diese würden den zinssensiblen Unternehmen der Eurozone einen zyklischen Impuls verleihen und die Verbraucherinnen und Verbraucher ermuntern, entsprechend ihren steigenden Realeinkommen mehr auszugeben. Gleichzeitig würde ein höheres Tempo der Auszahlungen aus dem Wiederaufbaufonds dazu beitragen, die Effekte der schrittweisen Haushaltskonsolidierung in höher verschuldeten Volkswirtschaften der Eurozone auszugleichen.
Die Konjunkturerholung in der Eurozone verlief langsamer als erwartet
Tatsache ist: das europäische Wachstum ist in diesem Jahr gestiegen. Im ersten Halbjahr 2024 wuchs die Wirtschaft der Eurozone um 0,5%, verglichen mit 0,2% im Gesamtjahr 2023.
Die jüngsten Aktivitätsindikatoren haben jedoch gezeigt, dass der Aufschwung nach wie vor relativ langsam verläuft. Umfragen unter Unternehmen wie die Einkaufsmanagerindizes (EMI) deuten auf gedämpftes Wachstum hin, unter dem insbesondere das verarbeitende Gewerbe leidet. Tatsächlich ist aufgrund der Schwäche der energieintensiven Sektoren die Industrieproduktion gegenüber Ende 2023 um 3% zurückgegangen. Dieses lahmende wirtschaftliche Umfeld ist Ausdruck eines unter den Erwartungen liegenden Anstiegs der Konsumausgaben, von Problemen der Warenproduzenten und von Hindernissen beim Zugang zu Geldern aus dem Wiederaufbaufonds.
Zaghafte Verbraucherinnen und Verbraucher
Ein Faktor hinter der relativ schwachen Erholung der Eurozone ist das zögerliche Verhalten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Das Verbrauchervertrauen und deren Ausgaben sind im Laufe des Jahres 2024 zwar gestiegen, allerdings nur in bescheidenem Tempo. Reale Einkommenszuwächse wurden zunehmend gespart und nicht mehr ausgegeben. Tatsächlich lag in der gesamten Eurozone die Sparquote im ersten Halbjahr 2024 deutlich über ihrem Durchschnitt vor der Pandemie.
Die nach wie vor hohen Zinsen haben wahrscheinlich dazu beigetragen, dass mehr gespart und weniger ausgegeben wird. Nationale und regionale Wahlen ohne klare Richtungsentscheidung sowie anhaltende geopolitische Spannungen dürften ebenfalls die Verbraucherstimmung beeinträchtigen.
Darüber hinaus halten die Verbraucherinnen und Verbraucher in Europa einen bedeutenden Teil ihres Vermögens in Bareinlagen, deren realer Wert in den letzten Jahren durch die höhere Inflation gesunken ist. Dieser negative Wohlstandseffekt wurde im Jahr 2023 durch einen leichten Rückgang der Immobilienpreise noch verstärkt.
Wir sind jedoch der Auffassung, dass einige dieser Probleme zukünftig nachlassen dürften. Niedrigere Zinssätze dürften das Verbrauchervertrauen stärken und Anreize für Ausgaben schaffen. Zudem steigen die Realeinkommen weiter. Laut Bank Lending Survey (Umfrage zur Kreditvergabe der Banken) für das vierte Quartal steigt die Kreditnachfrage der privaten Haushalte bereits signifikant. Insbesondere stieg der Nettoanteil der Banken, die einen Anstieg der Hypothekennachfrage meldeten, auf +39, was darauf hindeutet, dass die Erholung des Immobilienmarktes in der Eurozone bereits begonnen hat.
Problemfall verarbeitendes Gewerbe
Im europäischen Fertigungssektor zeigt sich die aktuelle Schwäche am deutlichsten. So stand beispielsweise der Einkaufsmanagerindex (EMI) in der Eurozone im Oktober bei einem vorläufigen Wert von 45,9 Punkten, was auf anhaltende Schrumpfung hindeutet.
Ein Grund für diese Schwäche sind die erhöhten Finanzierungskosten. Unternehmen der Eurozone reagieren besonders empfindlich auf Zinssätze: 70% der europäischen Unternehmensfinanzierung werden von Banken bereitgestellt, in den USA sind es dagegen nur 27%. Der kapitalintensive Fertigungssektor spürt angesichts seiner vergleichsweise hohen Abhängigkeit von Krediten die Belastungen durch die derzeit strafferen finanziellen Bedingungen stärker als die meisten anderen.
Die hohen Energiegroßhandelskosten in Europa stellen weiterhin die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen verarbeitenden Gewerbes in Frage. Die Gaspreise sind in Europa weiterhin mehr als viermal so hoch wie in den USA. Vor diesem Hintergrund bleibt in der Eurozone die Produktion in energieintensiven Branchen wie der Chemie-, Stahl- und Automobilindustrie am schwächsten.
Zusätzlich zu diesem Problem stehen die europäischen Fertiger in intensivem Wettbewerb mit China. Die exportorientierte Wachstumsstrategie der chinesischen Regierung und die geringeren Produktionskosten chinesischer Unternehmen erschweren es ihren europäischen Wettbewerbern, bei den Preisen wettbewerbsfähig zu sein. Dies führt zu schwachen Exportzahlen bei Produkten des verarbeitenden Gewerbes und einem Rückgang des Marktanteils europäischer Unternehmen in der Europäischen Union (EU).
Darüber hinaus wirkt sich auch die schwächere Nachfrage negativ auf das europäische verarbeitende Gewerbe aus. Nach einem Boom der Warennachfrage während der Pandemiezeit zögern die globalen Verbraucherinnen und Verbraucher nach wie vor bei Ausgaben für langlebige Güter. Tatsächlich nennen die Unternehmen der Eurozone aktuell den Faktor Nachfrage als größtes Hemmnis für die Steigerung ihrer Produktion.
Der europäische Automobilsektor ist von der derzeitigen Schwäche im verarbeitenden Gewerbe am stärksten betroffen. Während die weltweite Automobilproduktion stabil ist, geht sie in Europa zurück, und die Neuzulassungen innerhalb der EU bleiben unter dem Stand vor der Pandemie. Die Verkäufe von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor, die bei den meisten EU-Herstellern den Schwerpunkt bilden, sind rückläufig, während der Anteil der Elektrofahrzeuge am Neuwagenabsatz von 14% im Jahr 2022 auf 18% im Jahr 2023 gestiegen ist. Besonders akut sind die Probleme in Deutschland, wo der Automobilsektor über 4% der Gesamtwirtschaft ausmacht – viel mehr als im Durchschnitt der Eurozone (1,6%).
Bestimmte Probleme, mit denen europäische Automobilunternehmen und der Fertigungssektor insgesamt zu kämpfen haben, sind auf EU-Recht zurückzuführen. Laut aktueller Beschlusslage der Europäischen Kommission müssen bis 2035 alle Neufahrzeuge emissionsfrei sein. Die europäischen Automobilhersteller versuchen daher, ihre Produktion auf Elektrofahrzeuge zu verlagern, haben dabei aber mit hohen Batteriekosten zu kämpfen. Dadurch ist in Europa die Herstellung von Elektrofahrzeugen deutlich teurer als die von Verbrennern – in China ist es umgekehrt.
Die EU unternimmt Schritte, um die Probleme der europäischen Automobilhersteller zu adressieren. So wurde beispielsweise der Einfuhrzoll für chinesische Elektrofahrzeuge kürzlich auf 45% angehoben, was dazu beitragen könnte, die Wettbewerbsbedingungen für Europa in gewissem Umfang zu verbessern. Doch angesichts der niedrigeren Produktionskosten und der staatlichen Unterstützung, die chinesische Automobilhersteller erhalten, könnte selbst dies den Preisunterschied zwischen europäischen und chinesischen Elektrofahrzeugen nicht vollständig wettmachen.
Die strukturellen Wettbewerbsprobleme Europas dürften daher auch mit der aktuellen Gesetzgebung bestehen bleiben. Zölle tragen nicht dazu bei, das Preisgefälle zwischen in Europa und in Drittmärkten gefertigten Gütern zu verringern, sie senken keine Energiekosten und sie kurbeln auch nicht die weltweite Güternachfrage an. Die EU zeigt bislang keine Bereitschaft, ihre Regulierungsstandards zu lockern oder europäische Automobilhersteller in ihren Bestrebungen nach weltweiter Wettbewerbsfähigkeit zu unterstützen.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich die Gewinnaussichten des verarbeitenden Gewerbes zukünftig verbessern werden.
Die bevorstehenden Zinssenkungen werden dem derzeit durch sehr hohe Finanzierungskosten belasteten Sektor Auftrieb geben. Tatsächlich zeigte die Bank Lending Survey (Umfrage zur Kreditvergabe der Banken) für das vierte Quartal bereits eine positive Trendwende bei der Nachfrage nach Unternehmenskrediten zur Finanzierung von Anlageinvestitionen. Darüber hinaus könnten die jüngsten nachfrageseitigen Konjunkturmaßnahmen der chinesischen Regierung auch den chinesischen Bedarf an europäischen Gütern erhöhen.
Die europäischen Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes werden jedoch weiterhin mit strukturellen Problemen zu kämpfen haben, die mit ihrer mangelnden Preiswettbewerbsfähigkeit zusammenhängen. Um einen optimistischeren Ausblick auf das verarbeitende Gewerbe zu wagen, müssten wir einen stärkeren Anstieg des globalen Güterkreislaufs, einen strukturellen Rückgang der Energiekosten in Europa oder größere Bereitschaft der europäischen Politiker sehen, bessere Wettbewerbsbedingungen zu schaffen.
Enttäuschung bei den Konjunkturmaßnahmen
Neben dem langsameren Anstieg des Konsums und der Schwäche der verarbeitenden Industrie ist zu konstatieren, dass sich die Auszahlungen aus dem Wiederaufbaufonds – dem EU-Konjunkturprogramm zur Unterstützung der Erholung nach der Pandemie – nicht wesentlich beschleunigen. Verschiedene EU-Mitgliedstaaten haben Probleme mit der raschen Umsetzung der Projekte und Reformen, die zur Freisetzung der verfügbaren Mittel erforderlich sind. Die Verzögerungen sind auf Kostendruck, Knappheit an Material und Arbeitskräften sowie unvorhergesehene bürokratische Hürden zurückführen.
Darüber hinaus hat die Europäische Kommission gegen einige Mitgliedstaaten – darunter Frankreich und Italien – im Juli ein „Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“ eingeleitet, das den Spielraum der betroffenen Länder bei haushaltspolitischen Maßnahmen einschränkt.
Im Jahr 2025 wird der Wiederaufbaufonds weiterhin das europäische Wachstum fiskalpolitisch unterstützen oder dazu beitragen, die schrittweise Haushaltskonsolidierung in Mitgliedstaaten, gegen die ein Defizitverfahren läuft, zu kompensieren. Die Implementierung könnte Fahrt aufnehmen, wenn Kostendruck und Arbeitskräftemangel nachlassen. Rund 380 Mrd. EUR des Fonds müssen noch ausgezahlt werden. Wenn diese Mittel bis 2026 ausgegeben werden, könnte laut EZB-Mitarbeitern das BIP der Eurozone um 1,5% steigen.
Darüber hinaus fordern einige Mitgliedstaaten von der Europäischen Kommission, den Zeitrahmen für den Wiederaufbaufonds über 2026 hinaus zu verlängern, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Mittel des Fonds vollständig ausgegeben werden. Eine solche Verlängerung würde die einstimmige Zustimmung der Mitgliedstaaten erfordern und den Zeitraum der finanziellen Unterstützung durch den Fonds ausdehnen.
Der sehr disziplinierte haushaltspolitische Rahmen der EU mit Verfahren bei einem übermäßigen Defizit und Plänen zur Schuldenreduzierung steht in krassem Gegensatz zur Politik in den USA. Ob die Anlegerinnen und Anleger diese Disziplin mit niedrigeren Anleiherenditen belohnen – die dann wiederum die Konjunktur fördern –, bleibt aber abzuwarten. Falls nicht, könnten die vergleichsweise lockeren finanzpolitischen Zügel der USA weiterhin zu einem Wachstumsgefälle gegenüber der Eurozone beitragen.
Fazit
Wir glauben nicht, dass die Erholung der Eurozone vorbei ist. Obwohl das Wachstum langsamer ist als von vielen Anfang 2024 erwartet, werden einige der oben genannten Hinderungsfaktoren wahrscheinlich an Bedeutung verlieren.
Schnellere Zinssenkungen seitens der EZB, angetrieben durch moderaten Inflationsdruck und langsameres Wachstum als erwartet, dürften die Situation des verarbeitenden Gewerbes erleichtern und höhere Verbraucherausgaben begünstigen. Auch wenn andere Probleme für die Erzeuger von Gütern bestehen bleiben, dürfte das anhaltende Wachstum der Realeinkommen weiterhin für mehr Vertrauen und höheren Konsum sorgen. Und die Bereitstellung von Barmitteln aus dem Wiederaufbaufonds wird die Gesamtnachfrage stärken, insbesondere in Ländern, die ihre nationalen Haushalte schrittweise konsolidieren.
Obwohl sich also die Dynamik in Europa über weite Strecken des Jahres 2024 etwas enttäuschend entwickelte, gibt es nach wie vor gute Gründe für Optimismus.