ESG-Faktoren (Umwelt, Soziales, Unternehmensführung) werden zunehmend neben traditionellen Finanzkennzahlen verwendet, um ein besseres Verständnis der Risiken zu erlangen, die für die Nachhaltigkeit einer Investition relevant sind. Es gibt viele Möglichkeiten, wie diese Faktoren in einen Anlageprozess integriert werden können, je nachdem, wie Investorinnen und Investoren ihre finanziellen Ziele mit ihren Werten in Einklang bringen möchten. Eine bemerkenswerte Entwicklung, die wir in letzter Zeit beobachten konnten, ist das Entstehen einer neuen Kategorie von Investorinnen und Investoren, die sich nicht mehr einfach nur darauf konzentrieren, ESG-Risiken zu mindern und Ausschlusskriterien anzuwenden, sondern die auch potenzielle Chancen, die ESG-Anlagen bieten können, berücksichtigen, und ihr Portfolio entsprechend danach ausrichten.
Was ist ESG?
Warum interessieren sich Investorinnen und Investoren verstärkt für ESG-Faktoren?
Wir sehen die Integration von ESG-Faktoren in den Anlageentscheidungsprozess aus mehreren Gründen als wesentlich an.
Der wichtigste Faktor ist die Governance, also die Unternehmensführung. In Bezug auf die Umwelt hat beispielsweise das Pariser Abkommen seit seiner Unterzeichnung im Jahr 2016 erhebliche Impulse für die Bekämpfung des Klimawandels gesetzt, mit dem Ziel, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Mehr als 70 Länder und Regionen – die über 75 % der weltweiten Treibhausgasemissionen (THG) ausmachen – haben sich nun ehrgeizige Ziele gesetzt, um die Emissionen in den kommenden Jahrzehnten zu senken, doch bisher sind die Fortschritte begrenzt (vgl. Abb. 1).
Abbildung 1: Ziele für Treibhausgasemissionen
Mrd. Tonnen/Jahr, CO2 Äquivalent
Um das Klima wieder auf Kurs zu bringen, sind erhebliche Änderungen bei der Klimamaßnahmen erforderlich, sowohl in Form von „Zuckerbrot“, wie neue Ausgaben für klimafreundliche Vorhaben, als auch in Form von „Peitsche“, wie neue Steuern und Vorschriften. Die Reaktionen darauf bleiben nicht aus. So können wir die Schaffung mehrerer Initiativen im privaten Sektor feststellen, die sich an den Zielen des Pariser Abkommens ausrichten, wie z. B. die Net Zero Asset Managers Initiative (NZAMI) und die Net Zero Asset Owners Alliance (NZAOA). Durch die Festlegung von Zielen und Anforderungen für die Unterzeichner, wie z. B. die Festlegung von vorläufigen Netto-Null-Portfoliozielen, zielen diese Initiativen darauf ab, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in konkrete Maßnahmen umzusetzen und den Wandel im gesamten Anlageumfeld zu erleichtern.
Größere Veränderungen im globalen Energiemix sind eine wichtige Säule der Klimaziele. Erneuerbare Energien machen heute weniger als 10 % des Energiemixes aus, doch Schätzungen des BP Energy Outlook 2020 zufolge muss ihr Anteil in den nächsten 30 Jahren auf etwa 60 % steigen, wenn die Netto-Null-Ziele erreicht werden sollen. Dieser Wandel kann Branchen, die stark von fossilen Brennstoffen abhängig sind, vor große Herausforderungen stellen und gleichzeitig Unternehmen Chancen eröffnen, die die Umstellung erleichtern können, was die Bedeutung unterstreicht, die die Berücksichtigung von Umweltfaktoren bei jeder Anlageentscheidung hat. (Wir diskutieren diese Trends ausführlicher in “Netto-Null-Emissionen erreichen: Der Weg zu einer klimaneutralen Welt”.)
ESG-Überlegungen wirken sich auch auf die Verbraucherpräferenzen und die öffentliche Meinung aus, die wiederum das Handeln der Unternehmen antreiben. Verbraucher treffen Kaufentscheidungen im Hinblick auf Nachhaltigkeit, und sie stimmen mit ihrem Geldbeutel ab. Diese Änderungen haben Dominoeffekte. Nicht nur Unternehmen stehen unter Druck „von unten“ – durch die Art und Weise, wie die Kundinnen und Kunden ihr Geld ausgeben. Auch die Regierungen stehen unter diesem Druck, da Wählerinnen und Wähler Ihnen zunehmend auf die Finger sehen. Für Anlegerinnen und Anleger ergeben sich daraus überzeugende Gelegenheiten, in Unternehmen zu investieren, die darauf reagiert haben, indem sie ESG-Überlegungen in ihre Geschäftstätigkeit aufgenommen haben, oder die Produkte und Dienstleistungen anbieten, die Herausforderungen in Zusammenhang mit Nachhaltigkeit direkt angehen.
Gleichzeitig treten nach einem Jahrzehnt schwachen Reallohnwachstums, insbesondere in Haushalten mit niedrigem und mittlerem Einkommen, soziale und Governance-Faktoren in den Vordergrund. Zudem warf die Covid-19-Pandemie ein Schlaglicht auf die Art und Weise, wie Unternehmen mit ihrer Belegschaft umgehen. So wird zum Beispiel in Unternehmen die Bedeutung von Diversität und Inklusion zunehmend anerkannt, wie die starke Zunahme der Häufigkeit zeigt, mit der diese Begriffe in den letzten zwei Jahren in den Gewinnpräsentationen der Unternehmen erwähnt wurden (siehe Abbildung 2). In der EU wird derzeit über eine Sozialtaxonomie beraten (zur Ergänzung der bestehenden Umwelttaxonomie) die dazu beitragen wird, klarer zu definieren, was eine soziale Anlage ist und welche Aktivitäten zur Erreichung sozialer Ziele beitragen. Unterdessen werden auch Governance-Standards, wie etwa die Diversität in den Vorständen und Risikomanagementpraktiken, viel genauer unter die Lupe genommen.
Abbildung 2: Erwähnung der Begriffe „Diversität“ und „Inklusion“ in den Gewinnpräsentationen der Unternehmen
Anzahl der Erwähnungen für Unternehmen im MSCI ACWI, gleitender Durchschnitt über vier Quartale
Da die Investorinnen und Investoren versuchen, ESG-Faktoren in ihren Portfolios besser zu berücksichtigen, ändert sich die Art der Anlageströme, was durch die Aufsichtsbehörden, die die Messlatte für Offenlegungen höher legen, wie z. B. durch die EU-Verordnung über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor (Offenlegungsverordnung, (SFDR). weiter unterstützt wird. Gemäß Daten von Morningstar sind Nettomittelzuflüsse in nachhaltige Investmentfonds in Europa von 15 % im Jahr 2017 auf über 100 % im ersten Halbjahr 2022 gestiegen. Schon dieser Trend alleine könnte die Bewertungen im Laufe der Zeit beeinflussen, da Unternehmen, die bei ESG-Kennzahlen einen hohen Rang einnehmen, von niedrigeren Finanzierungskosten profitieren.
Wie können ESG-Faktoren in die Anlageentscheidung einbezogen werden?
Während sich das Spektrum der angebotenen Strategien ständig weiterentwickelt, stehen Investorinnen und Investoren, die nachhaltige Faktoren stärker gewichten möchten, mehrere Optionen zur Verfügung.
In einem ersten Schritt werden zunehmend Ausschlussrichtlinien auf ihre Portfolios angewandt, um bestimmte Werte und Ansichten zum Ausdruck zu bringen, indem sie Beschränkungen für die Fähigkeit eines Fondsmanagers zum Kauf von Anlagen mit Verbindung zu bestimmten Branchen wie Waffen, Tabak, Kraftwerkskohleförderung, Schieferöl und -gasförderung, Alkohol und Unterhaltung für Erwachsene anwenden. Alternativ können Fondsmanager möglicherweise nur in Unternehmen investieren, die Unterzeichner des Global Compact der Vereinten Nationen zu nachhaltiger und sozial verantwortlicher Politik sind.
Mittlerweile ist ESG-Integration ein grundlegender Bestandteil vieler Strategien geworden. ESG-Integration ist die systematische Einbeziehung finanziell wesentlicher ESG-Faktoren als zusätzlichen Input in die Anlageanalyse und Entscheidungsfindung. Die Bewertung von ESG-Faktoren wie Klimarisiko, Verbrauch natürlicher Ressourcen, Humankapitalmanagement und Geschäftsgebaren haben sich neben traditionelleren Faktoren wie der Produktnachfrage zunehmend als wichtige Faktoren zur Bewertung der langfristigen Aussichten eines Unternehmens durchgesetzt.
Darauf aufbauend versuchen Investorinnen und Investoren zunehmend, die Chancen zu nutzen, die Nachhaltigkeitsfaktoren bieten können, anstatt sich nur auf die Minderung der Risiken zu konzentrieren. Sie investieren in dedizierte nachhaltige Strategien, die einen zukunftsorientierten Ansatz verfolgen, der darauf abzielt, langfristig nachhaltige finanzielle Renditen zu erzielen. Letztlich hängt es von den Ansichten des einzelnen Anlegers ab, welchen Nachhaltigkeitsweg er einschlägt:
Positive Tilt-Strategien teilen in einem Portfolio Aktien mit höheren ESG-Werten eine größere Allokation zu. Die Ratings können entweder auf qualitativen oder quantitativen Bewertungssystemen basieren, die intern von Experten für Anlagen/nachhaltiges Investieren entwickelt wurden.
Best-in-Class-Strategien stufen Unternehmen im Anlageuniversum innerhalb ihrer Sektoren ein und wählen dann die nachhaltigsten Unternehmen innerhalb eines bestimmten Sektors aus. Bei diesem Prozess wird versucht, führende ESG-Unternehmen in einer Branche zu belohnen und gleichzeitig große Portfolioverzerrungen in Richtung von Sektoren zu vermeiden, die eher mit starken ESG-Praktiken oder besserer Offenlegung in Verbindung gebracht werden.
Thematische/Impact-Strategien sind so aufgebaut, dass sie sich an bestimmten ökologischen und/oder sozialen Zielen ausrichten, und sie investieren überwiegend in Unternehmen, deren Produkte und Dienstleistungen bestimmte Themen in diesen Bereichen angehen.
Wie wird eine Anlage anhand von ESG-Faktoren bewertet?
Da sowohl Investoren als auch Aufsichtsbehörden Unternehmen weiterhin unter Druck setzen, ESG-bezogene Informationen offenzulegen, verbessert sich die Datenverfügbarkeit stetig, und dies über alle Regionen hinweg. Viele Anleger nutzen Datenanbieter wie MSCI oder Sustainalytics, um Unternehmen unter ESG-Gesichtspunkten zu bewerten und zu vergleichen. Es ist jedoch nur bedingt möglich, sich ausschließlich auf externe Datenquellen zu verlassen, insbesondere angesichts der geringen Korrelation (0,46 ) zwischen den verschiedenen ESG-Ratings der einzelnen Agenturen, was die Herausforderungen bei den unterschiedlichen Bewertungsmethoden deutlich macht.
Um diese Schwierigkeit anzugehen, haben wir unsere eigenen datengesteuerten ESG-Scores erstellt. Durch diesen Ansatz können wir die zugrunde liegenden Treiber für die ESG-Risiken eines Unternehmens genauer untersuchen, und wir können alternative Datensätze aus einem breiteren Spektrum von Quellen einbeziehen, um zukunftsgerichtetere Datensignale abzuleiten.
Die Kopplung dieser Dateneinblicke mit denen aus der Fundamentalforschung kann Anlegern dabei helfen, eine ganzheitlichere Sicht der ESG-Risiken und -Chancen in jedem Unternehmen zu entwickeln, das sie sich ansehen. Die aktive Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung ist ein weiteres wirksames Instrument, das sowohl das Unternehmensverhalten beeinflussen als auch sicherstellen kann, dass ESG-Ratings die tägliche Praxis tatsächlich widerspiegeln.
Übersicht
ESG-Faktoren (Umwelt, Soziales und Governance) werden für Regierungen, Aufsichtsbehörden und Sparer gleichermaßen immer wichtiger. Investorinnen und Investoren können eine Reihe von Strategien anwenden, die von der ESG-Integration, bei der ESG-Faktoren neben traditionellen Kennzahlen im Anlageprozess berücksichtigt werden, bis hin zu Impact Investing reichen, bei dem ein bestimmtes Nachhaltigkeitsergebnis im Mittelpunkt des Anlageprozesses steht. Es ist zumindest notwendig zu verstehen, wie sich ESG-bezogene Präferenzen und Maßnahmen ändern, um das Anlagerisiko zu mindern. Sparer streben jedoch zunehmend nach mehr als nur nach finanziellen Renditen – sie wollen auch eine treibende Kraft für den Wandel sein.
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