"Es mag so aussehen, als sei Europa gut auf den kommenden Winter vorbereitet, die jüngste Volatilität des Gaspreises verdeutlicht jedoch, dass die Sicherheitsmargen recht schmal sind."
Die Gasspeicher in der EU haben bereits im August einen Füllstand von 90% erreicht, was es unwahrscheinlich macht, dass Europa in diesem Winter eine erneute Energiekrise bevorsteht. Die jüngste Volatilität der Gaspreise macht jedoch deutlich, dass die Sicherheitsmargen relativ schmal sind. Demzufolge werden die Energiepreise in der EU voraussichtlich höher und volatiler bleiben als vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Wir gehen auch davon aus, dass die Preise höher sein werden als in anderen industriellen Knotenpunkten, was die Wettbewerbsstärke der europäischen Industrie weiter untergraben könnte.
Die Gasversorgung in Europa sollten ausreichen, aber die Preise dürften volatil bleiben
Im letzten Jahr stellte Russland den Großteil seiner Gasexporte nach Europa zu Beginn des Sommers ein, als Vergeltung für die Wirtschaftssanktionen, die der Westen nach der Invasion in die Ukraine verhängt hatte. Die Sabotage der zwei wichtigsten Gaspipelines aus Russland nach Europa (Nord Stream 1 und 2) im September 2022 beendete alle Hoffnungen auf eine baldige Wiederaufnahme der russischen Gasexporte.
Da rund 45% der europäischen Gasimporte auf Russland entfielen, führte die folgende Energiekrise zu einem sprunghaften Anstieg der Gas- und Strompreise in ganz Europa und trieb die Inflation auf den höchsten Stand seit mehreren Jahrzehnten. Dank der Bemühungen um eine Diversifizierung der Versorgung, eine Verringerung des Bedarfs und den Aufbau der Gasspeicher vor dem Winter konnte Europa Gasengpässe vermeiden. Auch der milde Winter und die Konjunkturschwäche in China, die einen Rückgang der globalen Nachfrage nach Flüssiggas (LNG) zur Folge hatte, war günstig für Europa.
Während das Worst-Case-Szenario im letzten Winter abgewehrt werden konnte, gehen viele Energieexperten davon aus, dass die Lage im jetzt kommenden Winter – und auch in den nächsten zwei oder drei – schwierig bleiben könnte. Die Gasreserven Europas konnten sich in diesem Jahr nicht so sehr auf Importe über russische Pipelines stützen wie im Jahr 2022, als die russischen Gaslieferungen bis Juli andauerten. Gleichzeitig dürfte die Wiedereröffnung der chinesischen Wirtschaft zu einem Anwachsen der Konkurrenz an den internationalen LNG-Märkten führen und die Preise anheizen.
Bisher ist der Aufschwung in China langsamer verlaufen als erwartet, was dazu beigetragen hat, dass die Gaspreise in Europa deutlich unter dem Niveau von 2022 geblieben sind (Abbildung 1). Auch das Ziel, die europäischen Gasspeicher auf 90% zu füllen, wurde klar vor dem angestrebten 1. November erreicht (Abbildung 2).
Es wäre allerdings zu früh, von einem Erfolg zu sprechen, vor allem angesichts der starken Volatilität der Gaspreise. Allein im August schnellten die Preise um 23% in die Höhe, angetrieben von einem drohenden Streik in drei LNG-Anlagen in Australien, die für bis zu 7% des weltweiten LNG-Angebots verantwortlich sind.
Dynamik von Gasangebot und -nachfrage in Europa
Es mag so aussehen, als sei Europa gut auf den kommenden Winter vorbereitet, die jüngste Volatilität des Gaspreises verdeutlicht jedoch, dass die Sicherheitsmargen recht schmal sind. Der Energiemarkt Europas bleibt sehr anfällig für Angebotsstörungen oder Änderungen in den globalen Nachfragemustern aufgrund eines kalten Winters oder einer Beschleunigung der Wirtschaftstätigkeit in China. Mit dieser Sachlage im Blick haben wir die aktuelle Dynamik von Energieangebot und -nachfrage in Europa analysiert, um zu untersuchen, welche Auswirkungen die Energiekosten in den kommenden Monaten auf die europäische Wirtschaft haben könnten.
Nachfrage
Den Prognosen der Internationalen Energieagentur (IEA) zufolge sollte die globale Gasnachfrage 2023 weitgehend unverändert bleiben, weil der Anstieg der Nachfrage in Asien – angetrieben von der Wiedereröffnung der chinesischen Wirtschaft – durch einen entsprechenden Rückgang der Gasnachfrage in Europa ausgeglichen wird.1
Wie im Jahr 2022 ist es Europa auch in diesem Jahr gelungen, seinen Gasverbrauch um 15% unter dem Durchschnitt der Jahre 2019–2021 zu halten (Abbildung 3). Ein Teil dieses Rückgangs ist zwar auf Effizienzsteigerungen zurückzuführen, der geringere Gasverbrauch spiegelt aber auch die derzeit schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen in Europa wider, die zu einem Rückgang der Nachfrage seitens der Industrie geführt haben.
Gegenüber 2022 dürfte die Gasnachfrage für die Stromerzeugung weiter zurückgehen, da mit einem Anstieg der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien gerechnet wird. Die Erzeugung von Strom aus Solar-, Wind- und Wasserkraft ist in der ersten Hälfte des Jahres 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bereits um 13%, 5% bzw. 11% gestiegen.2
Darüber hinaus dürfte die französische Kernenergieerzeugung in diesem Jahr um 10–15% ansteigen, von 279 Terawattstunden (TWh) im Jahr 2022 auf 300–330 TWh im Jahr 2023.3 Während dieser Zuwachs teilweise durch die Stilllegung von Atomkraftwerken in Deutschland und Belgien neutralisiert werden könnte, dürfte die Atomstromproduktion in der EU insgesamt in diesem Jahr höher ausfallen.
Angebot
Das globale Erdgasangebot wird nach Schätzungen der IEA im Jahr 2023 knapp bleiben.4 Europa hat sich bisher zum Ausgleichen der ausgefallenen Gaslieferungen aus Russland auf den zusätzlichen Import von LNG verlassen, der 2022 um 60% angewachsen ist (Abbildung 4), und auf die Erweiterung der Regasifizierungskapazitäten, die 2023 dank neuer schwimmender Rückvergasungsanlagen im Vergleich zu 2021 um 25% höher liegen.
Es wird jedoch nur ein moderater Anstieg des globalen LNG-Angebots für 2023 erwartet. Gleichzeitig dürften die Importe über nicht-russische Gaspipelines, die im letzten Jahr ebenfalls deutlich zulegten, 2023 stagnieren, da die meisten Pipelines bereits mit maximaler Kapazität betrieben werden.
Auch die Gasförderung in Europa selbst wird in diesem Winter rückläufig sein, weil die Niederlande beschlossen haben, ihre Gasfelder in Groningen, auf die ungefähr 1% des Gasangebots in Europa entfielen, ab dem 1. Oktober 2023 stillzulegen. Positiv hingegen ist, dass die Erdgaslieferungen aus Russland nach China über die sibirische Pipeline voraussichtlich um 40% zulegen werden, was theoretisch den Bedarf an zusätzlichen LNG-Importen in China senken dürfte.
Risiken
Unter Berücksichtigung der hier dargelegten Dynamik von Angebot und Nachfrage und der Tatsache, dass die Gasspeicher Europas nahezu voll sind, wirkt es unwahrscheinlich, dass es zu einer erneuten Energiekrise in Europa kommt.
Europa importiert allerdings weiterhin Gas aus Russland über die Pipelines in der Ukraine und über Turkstream. Auch die LNG-Importe aus Russland sind – allerdings von einer niedrigen Basis ausgehend – 2022 um 35% angewachsen. Sollte es zu einer weiteren Eskalation des Ukraine-Konflikts kommen, wären diese Gasströme, die absolut betrachtet zwar relativ klein sind, gefährdet.
Jenseits des Gasmarkts könnte der Krieg in der Ukraine auch andere Energiequellen in Mitleidenschaft ziehen. Beispielsweise hat Kernkraft in jüngerer Zeit als Alternative zu Gas etwas Boden zurückgewonnen, aber auch in diesem Bereich ist der Westen stark von Russland abhängig. Das russische Staatsunternehmen Rosatom ist für 30% der Importe von angereichertem Uran nach Europa und 25% des Angebots in den USA verantwortlich.
Diese Risiken beschreiben zwar das Worst-Case- Szenario, aber selbst das Basisszenario könnte eine Beeinträchtigung der europäischen Wirtschaft bedeuten. Während die Energiepreise seit dem letzten Jahr spürbar gesunken sind, liegen die Gaspreise immer noch bei dem Vierfachen der Preise in den USA und anderen industriellen Ballungsräumen. Durch diesen Preisunterschied sinkt die Wettbewerbsstärke der europäischen Industrie, die schon die Bepreisung von Kohlenstoffemissionen in der EU zu verkraften hat. Innerhalb Europas wird Deutschland am stärksten betroffen sein. 2021 lieferte hier das herstellende Gewerbe 26,6% der wirtschaftlichen Bruttowertschöpfung, gegenüber 16,8% in Frankreich.5
Fazit
Es sieht zwar so aus, als sei Europas Energieversorgung für diesen Winter gesichert, relativ schmale Sicherheitsmargen bedeuten jedoch, dass die Energiepreise in der Region volatiler und höher als vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine bleiben werden, und höher als in anderen industriellen Zentren. Höhere und volatilere Energiepreise werden die Wettbewerbsstärke der europäischen Industrie angreifen, das Wirtschaftsklima belasten und die Normalisierung der Inflation bremsen.
Bisher hat Europa die Herausforderungen im Energiesektor jedoch im Griff behalten. Die politischen Entscheider werden sich voraussichtlich weiterhin auf die Elemente konzentrieren, die sie kontrollieren können, um die energiebedingte Belastung der Wirtschaft zu verringern. Darunter fallen unter anderem die Beschleunigung der Energiewende, die Verringerung der Energienachfrage und der Schutz der industriellen Wettbewerbsfähigkeit durch das europäische CO2-Grenzausgleichssystem, das am 1. Januar 2026 in Kraft treten soll.
Die aktuelle Lage ist zugegebenermaßen sehr schwierig für Europas Wirtschaft und die europäische Industrie, diese Maßnahmen sollten jedoch letztendlich die führende Position Europas im Rennen zur Netto-Null bei Emissionen stärken. Der jetzige Verlust ökonomischer Wettbewerbsstärke könnte sich im Laufe der Zeit in einen Vorteil umkehren, weil die europäischen Unternehmen jetzt – vor ihren Konkurrenten im Rest der Welt – aktiv an der Verringerung ihrer Kohlenstoffintensität und ihrer Konformität mit strikten Umweltstandards arbeiten.
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