In wenigen Worten
Obwohl die Inflation weiterhin über den Zielvorgaben der Zentralbank liegt, dürfte sie sich allmählich abschwächen, da sich die Konjunktur abkühlt, der Arbeitsmarkt schwächer wird, der Druck auf die Lieferketten weiter nachlässt und es Europa gelingt, seine Energieversorgung zu diversifizieren.
Unser Kernszenario geht davon aus, dass die Volkswirtschaften der Industrieländer im Jahr 2023 in eine leichte Rezession rutschen werden.
Sowohl Aktien als auch Anleihen haben jedoch die makroökonomischen Probleme, die in 2023 auftreten könnten, vorweggenommen und erscheinen zunehmend attraktiv – und wir sind von Anleihen so überzeugt wie seit über zehn Jahren nicht mehr.
Der breit angelegte Abverkauf an den Aktienmärkten hat dazu geführt, dass einige Aktien mit hohem Ertragspotenzial zu sehr niedrigen Bewertungen gehandelt werden; wir sehen Chancen bei klimabezogenen Aktien und in den Schwellenländern.
Wir sind stärker von günstigeren Aktien überzeugt, die bereits viele schlechte Nachrichten eingepreist haben und verlässliche Dividenden bieten.
Das Wachstum in den Industrieländern wird sich verlangsamen, wobei der Wohnungsbau am stärksten betroffen ist
Mit Blick auf das Jahr 2023 ist die wichtigste Frage eigentlich ganz einfach: Wird die Inflation mit der Abkühlung der Wirtschaftstätigkeit nachlassen? Wenn dies der Fall ist, werden die Zentralbanken die Zinssätze nicht weiter anheben, und die Rezession, wenn sie denn eintritt, wird wahrscheinlich moderat ausfallen. Falls die Inflation nicht nachlässt, droht ein negativeres Szenario.
Erfreulicherweise gibt es unserer Meinung nach bereits überzeugende Anzeichen dafür, dass der Inflationsdruck nachlässt und dies auch 2023 der Fall sein wird.
Die Wohnungsmärkte reagieren wie üblich als erste, wenn die Zentralbanken auf die geldpolitische Bremse treten. Wesentlich höhere Zinsen für neue Hypotheken dämpfen die Nachfrage nach neuen Immobilien, und wir glauben, dass die Ausläufer der schwächeren Wohnungsbautätigkeit im Jahr 2023 auf die Weltwirtschaft übergreifen werden. Die Bautätigkeit wird sich abschwächen, die Ausgaben für Möbel und andere langlebige Haushaltsgüter werden zurückgehen, und die sinkenden Immobilienpreise könnten die Verbraucherausgaben in den nächsten Quartalen belasten. Der Rückgang der Wirtschaftstätigkeit dürfte die beabsichtigte Wirkung haben, die Inflation zu dämpfen.
Glücklicherweise ist das Risiko einer tiefen, durch den Wohnungsmarkt ausgelösten Rezession, wie wir sie 2008 erlebt haben, gering. Erstens war der Wohnungsbau über weite Strecken des letzten Jahrzehnts relativ verhalten, was bedeutet, dass ein Überangebot, das die Hauspreise deutlich nach unten treibt, unwahrscheinlich ist (Abbildung 1). Zweitens wurden diejenigen, die in letzter Zeit zu höheren Preisen gekauft haben, immer noch durch die strengeren Beleihungsquoten der Banken eingeschränkt.
Quelle: Haver Analytics, National Association of Realtors, Refinitiv Datastream, Royal Institute of Chartered Surveyors,US Census Bureau, J.P. Morgan Asset Management. Der Bestand an US-Wohnimmobilien umfasst neue und bestehende, zum Verkauf stehende Einfamilienhäuser. Beide Reihen sind saisonbereinigt. Daten zum 31. Oktober 2022.
Schließlich dürften die Auswirkungen höherer Zinssätze auf die Hypothekenschuldner weniger gravierend sein. In den USA haben die Haushalte die vor ein paar Jahren herrschenden niedrigen Zinssätze gut abgesichert. Heute sind nur etwa 5 % der US-Hypotheken variabel verzinst, im Vergleich zu über 20 % im Jahr 2007. Im Jahr 2020 lag der Zinssatz für 30-jährige Hypotheken in den USA bei nur 2,8 %, was zu einer Flut von Refinanzierungsaktivitäten führte. Sofern die betreffenden Personen nicht umziehen wollen, wird sich derjüngste Zinsanstieg nicht auf ihr verfügbares Einkommen auswirken.
Im Vereinigten Königreich haben einige Haushalte ebenfalls gute Arbeit geleistet, um sich vor dem kurzfristigen Anstieg der Zinsen zu schützen. Im Jahr 2005 - dem Beginn des letzten bedeutenden Zinserhöhungszyklus - waren 70 % der Hypotheken variabel verzinst. Heute beträgt der Anteil der Hypotheken mit variablem Zinssatz nur noch 14 %. Bei weiteren 25 % der Hypotheken war jedoch der Zinssatz nur für zwei Jahre festgeschrieben. Damit ist das Vereinigte Königreich anfälliger als die USA, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung.
Es ist auch zu bedenken, dass nicht jeder eine Hypothek hat, während Personen, die Bargeldersparnisse besitzen, einen Anstieg ihres verfügbares Einkommens verzeichnen, wenn die Zinssätze steigen. Dieser Faktor ist besonders wichtig, wenn wir an die größeren Länder Kontinentaleuropas denken, wo weniger Haushalte eine Hypothek haben und die Ersparnisse der Haushalte in Prozent des BIP höher sind als in den USA und im Vereinigten Königreich (Abbildung 2). Die Europäische Zentralbank (EZB) wurde oft gewarnt, dass Nullzinsen aufgrund des hohen Sparaufkommens in der Region kontraproduktiv wären.
Quelle: Eurostat, OECD, J.P. Morgan Asset Management.Daten zum 31. Oktober 2022.
Europa meistert die Energiekrise gut
Für Europa besteht das Hauptrisiko weniger in einer Immobilienkrise als vielmehr in der Energieversorgung, da Russland - das früher 40 % des europäischen Gases lieferte - in diesem Sommer seine Lieferungen größtenteils eingestellt hat.
Zumindest für den kommenden Winter nimmt das Risiko für die Gasversorgung dank einer Kombination aus gutem Urteilsvermögen und Glück tatsächlich ab. Europa hat es geschafft, seine Gastanks über den Sommer aufzufüllen, wobei russisches Gas weitgehend durch Flüssigerdgas aus den USA ersetzt wurde.
Seitdem hat Europa das Glück eines sehr milden Herbstes gehabt und geht daher mit fast vollen Tanks in die drei wichtigsten Wintermonate (Abbildung 3). Wenn die Temperaturen nicht umschlagen und wir in den ersten Monaten des Jahres 2023 mit bitterer Kälte konfrontiert werden, erscheint es zunehmend wahrscheinlich, dass Europa diesen Winter ohne Energierationierung überstehen wird.
Quelle: Bloomberg, Gas Infrastructure Europe, J.P. Morgan Asset Management. Daten zum 31. Oktober 2022
Das eingelagerte Gas wurde freilich zu sehr hohen Preisen erworben. Die Regierungen schützen die Verbraucher jedoch weitgehend vor dem Großteil der höheren Energiepreise. Wir werden bis zum Frühjahr abwarten müssen, um zu sehen, ob die Kosten für die öffentlichen Haushalte zu hoch sind, um die Unterstützung fortzusetzen.
China sollte sich nach Covid öffnen, was den Druck auf die globalen Lieferketten verringert
Die chinesische Wirtschaft sieht sich mit völlig anderen Herausforderungen konfrontiert als die Volkswirtschaften der Industrieländer, da noch immer weitreichende Lockdowns bestehen, um die Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen. Aufgrund der niedrigen Impfquoten, insbesondere bei älteren Menschen, und des im Vergleich zum Westen weniger gut ausgebauten Krankenhausnetzes zögern die chinesischen Behörden, eine Politik zu verfolgen, die darauf basiert „mit Covid zu leben“.
Eine längere Lockdown-Phase erscheint jedoch ebenfalls unhaltbar, und wir gehen davon aus, dass sich die Wirtschaftstätigkeit in China beschleunigen wird, wenn der Nachholbedarf abgebaut wird. Auch wenn der Zeitpunkt des Politikwechsels ungewiss bleibt, hat die Marktentwicklung gezeigt, wie empfindlich die Anleger auf Anzeichen für eine Änderung des Ansatzes reagieren.
Wichtig ist, dass eine Normalisierung der chinesischen Wirtschaft die Störungen der Lieferketten, die zu einer rasch steigenden Inflation bei Waren beigetragen hat, erheblich mildern könnte. Auch wenn ein Wiederanstieg des Wachstums in China die Nachfrage nach globalen Rohstoffen ankurbeln könnte, ist dies unserer Einschätzung nach insgesamt ein weiterer Treiberfür eine niedrigere Inflation im Jahr 2023.
Inflationspanik legt sich, Zentralbanken halten inne
Anzeichen für eine Abkühlung der Wirtschaftstätigkeit im Westen und eine Rückkehr zur vollen Produktion in China dürften die Inflation im Laufe des Jahres 2023 abschwächen, wobei insbesondere die schrumpfenden Beiträge des Energie- und Gütersektors dazu beitragen werden, dass der Preisdruck in den kommenden Monaten nachlässt.
Um sicherzugehen, dass wir die Inflation hinter uns gelassen haben, muss jedoch auch der Lohndruck nachlassen. Hier haben sich die Zentralbanken geirrt, als sie davon ausgingen, dass sich die Inflation als „vorübergehend“ erweisen würde. Und sie haben unterschätzt in welchem Ausmaß der angespannte Arbeitsmarktlage zu mehr Lohnforderungen der Arbeitnehmer führt (Abbildung 4).
Quelle: Bank of England, J.P. Morgan Asset Management. Die Prognosen basieren auf dem Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Lohnsumme im 4. Quartal.Daten zum 18. November 2022.
Die offenen Stellen - die in allen großen Regionen immer noch die Zahl der Arbeitslosen übersteigen - sind ein wichtiger Indikator für die nächsten Monate (Abbildung 5). Der Trend bei Neueinstellungen und Kündigungen schlägt bereits um, und da höhere Löhne einer der häufigsten Gründe für einen Arbeitsplatzwechsel sind, sehen wir dies als ein Zeichen dafür, dass das Lohnwachstum nachlassen sollte.
Quelle: Bloomberg, BLS, Eurostat, MIAC, Ministry of Health Labour and Welfare, ONS, J.P. Morgan Asset Management.Die Daten zu offenen Stellen in Großbritannien entsprechendem veröffentlichten Dreimonatsdurchschnitt.Daten zum 31. Oktober 2022.
Unter der Annahme, dass sich die Gesamtinflation und die Lohninflation abschwächen, gehen wir davon aus, dass die US-Zinssätze im ersten Quartal 2023 auf etwa 4,5 % bis 5,0 % ansteigen und dann auf diesem Niveau verharren werden. Auch von der EZB wird erwartet, dass sie im ersten Quartal bei einem Stand von 2,5 % bis 3,0 % eine Zinspause einlegt. Die Bank of England könnte etwas länger brauchen, um den Zins-Höchststand zu erreichen, da sich die Inflation im Vereinigten Königreich als hartnäckiger erweisen dürfte. Wir gehen davon aus, dass der britische Zinssatz im zweiten Quartal einen Höchststand von 4,0-4,5 % erreichen wird.
Auch sind die Zentralbanken bestrebt, durch eine quantitative Straffung ihre Bilanzen zu verkleinern, wir erwarten jedoch keine besonderen konzertierten Bemühungen und auch keine größeren Störungen. Die quantitative Lockerung sollte den Zentralbanken zusätzliche Kontrolle und Einfluss auf die langfristigen Zinssätze ermöglichen und dem Markt helfen, umfangreiche Emissionen von Staatsanleihen aufzunehmen. Wir gehen davon aus, dass die quantitative Straffung nach demselben Prinzip erfolgen wird. Da das Anleiheangebot 2023 immer noch einen beträchtlichen Umfang haben dürfte - und die Kreditkosten bereits erheblich gestiegen sind -, erwarten wir, dass die Zentralbanken bei der Verringerung ihrer Bilanzen zurückhaltend vorgehen werden.
Rezession sollten moderat ausfallen
Unsere wichtigste Einschätzung ist letztendlich, dass es in den kommenden Monaten Anzeichen dafür geben wird, dass die Inflation auf die nachlassende Wirtschaftstätigkeit reagiert. Die Inflation wird vielleicht nicht schnell auf 2 % zurückgehen, aber wir vermuten, dass die Zentralbanken pausieren sollten, solange sich die Inflation in die richtige Richtung bewegt.
Im Gegensatz dazu gibt es zwei Arten von Prognostikern, die eine Baisse erwarten. Einige glauben immer noch, dass wir zu einem Inflationsproblem im Stil der 1970er Jahre zurückgekehrt sind. In diesem Fall wäre eine deutlich tiefere Rezession und ein wesentliche stärkerer Anstieg der Arbeitslosigkeit erforderlich als von uns erwartet, um die Inflation zu bewältigen.
Andere argumentieren, dass moderate Rezessionen schwer zu steuern sind, weil sich die Abschwächung verselbständigt und zu einer Spirale führt. Dies war in der Vergangenheit der Fall - auf einen Boom folgte jeweils ein Zusammenbruch in Form einer tiefen Rezession. Nach übermäßigem Wachstum in einem Bereich der Wirtschaft - zumeist Unternehmensinvestitionen oder Wohnungsbau - hat es oft lange gedauert, bis sich die Wirtschaft angepasst und alternative Wachstumsquellen gefunden hatte. Diesmal ist das Wachstum bei Investitionen und Wohnungsbau jedoch bescheidener ausgefallen (Abbildung 6).
Quelle: BEA, Refinitiv Datastream, J.P. Morgan Asset Management. „Rezessions“-Perioden werden anhand der Konjunkturzyklusdaten des US National Bureau of Economic Research (NBER) definiert. Daten zum 31. Oktober 2022.
Darüber hinaus wurde der übermäßige Enthusiasmus in der Regel durch eine übermäßige Kreditvergabe der Banken angeheizt. Dies hat in der Vergangenheit zu einer Phase schwachen Kreditwachstums geführt, was den Abschwung noch verstärkte. Diesmal jedoch bedeutet die mehr als zehnjährige Regulierung seit der globalen Finanzkrise, dass die Geschäftsbanken für die derzeitige Konjunkturabschwächung extrem gut kapitalisiert sind und gründlichen Stresstests unterzogen wurden, um sicherzustellen, dass sie Verluste auffangen können, ohne eine Kreditkrise auszulösen (Abbildung 7).
Quelle: IMF, Refinitiv Datastream, J.P. Morgan Asset Management. Die Core-Tier-1-Quoten sind ein Maß für die Finanzkraft der Banken. Sie ergeben sich aus dem Vergleich des Core-Tier-1-Kapitals (Eigenkapital und offene Rücklagen) mit den gesamten risikogewichteten Aktiva. Daten zum 31. Oktober 2022.
Kurz gesagt, auf einen Boom folgt ein Zusammenbruch. In den letzten zehn Jahren gab es jedoch keinen Boom, und die Wirtschaftstätigkeit war in allen Sektoren eher zu träge. Obwohl sich die Wirtschaftstätigkeit abschwächen muss, um dem Rückgang der Inflation zu sichern, rechnen wir nicht mit einer langen odertiefen Schrumpfungsphase. Angesichts des bereits eingetretenen Kursrückgangs sowohl bei Aktien als auch bei Anleihen sind wir der Ansicht, dass 2023 zwar ein schwieriges Jahr für die Volkswirtschaften sein wird, in Bezug auf die Marktvolatilität jedoch das Schlimmste hinter uns liegt und sowohl Aktien als auch Anleihen zunehmend attraktiv erscheinen.
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Autoren
Karen Ward
Chief Market Strategist for EMEA
Tilmann Galler
Global Market Strategist
Max McKechnie
Market Analyst
Mike Bell, CFA
Global Market Strategist
Vincent Juvyns
Global Market Strategist
Natasha May
Global Market Analyst
Hugh Gimber, CFA
Global Market Strategist
Paola Toschi
Global Market Strategist
Zara Nokes
Global Market Analyst