Ein vorsichtigerer Ansatz würde zwar bedeuten, dass die Zinssenkungen später erfolgen würden, als der Markt derzeit erwartet, wir vermuten jedoch, dass die Zentralbanken letztendlich weiter senken werden als prognostiziert.
Es ist erstaunlich, wie sich das Marktnarrativ im Laufe des Jahres 2023 entwickelt hat. Zu Beginn des Jahres herrschte die Meinung vor, dass wir uns in einer Stagflation wie in den 1970er Jahren befinden. Da die Zentralbanken auf die Bremse treten, ist es kein Wunder, dass so viele – wir selbst eingeschlossen – eine Rezession erwartet haben. Das passiert in der Regel, wenn die Zinssätze so stark steigen.
Bislang sind die Volkswirtschaften mit höheren Zinsen jedoch erstaunlich gut zurechtgekommen. Gepaart mit Anzeichen für eine Abschwächung der pandemiebedingten Inflation hat sich das Marktnarrativ in Richtung einer weichen Landung verschoben. Die Anleihenmärkte sind begeistert von den Zinssenkungen, die Spreads liegen in den meisten Kreditbereichen auf oder unter dem historischen Durchschnitt, und die Aktienanalysten prognostizieren für 2024 ein zweistelliges Gewinnwachstum.
Sollte dies der Fall sein, wäre dies ein außerordentlicher Erfolg für die Zentralbanken. Wir raten jedoch dringend davon ab, zu früh eine Siegerrunde zu drehen. Es sind die „langen und variablen Verzögerungen“ in der Geldpolitik, die die Wirtschaftsprognostiker so oft plagen. Wenn das Verbrauchervertrauen umschlägt, geht es schnell. Im Durchschnitt der letzten 12 Rezessionen betrug das BIPWachstum in den USA im Quartal vor einer Rezession 3% in realer Hinsicht und 7% in nominaler Hinsicht. Es ist schwierig, die Entwicklung der Wirtschaft vorherzusagen, aber noch schwieriger ist es, den Zeitpunkt einer Rezession zu prognostizieren.
Lange und variable Verzögerungen
Wer einen Ausblick auf das Jahr 2024 wagt, muss mit der Frage beginnen: Haben die Zinsen noch Biss?
Wenn die Volkswirtschaften mit höheren Zinssätzen zurechtkommen, sollten die Auswirkungen auf Risikoanlagen positiv sein, aber für die Kernanleihen könnte es noch schwieriger werden, da die Anleihenmärkte immer noch sehnsüchtig auf niedrigere Zinsen warten. Wenn es sich bei dem, was wir im Jahr 2023 gesehen haben, jedoch um die üblichen „langen und variablen Verzögerungen“ bei der Übertragung der Geldpolitik handelt, sollten die Anlegerinnen und Anleger bei Risikoanlagen vorsichtig sein und sich stattdessen auf die Sicherheit konzentrieren, die erstklassige Anleihen bieten, wenn die erwarteten – und weitere – Zinssenkungen eintreffen.
Es gibt Gründe dafür, dass die westlichen Volkswirtschaften etwas weniger zinssensitiv sind als in der Vergangenheit. Die Gesamtverschuldung des privaten Sektors ist etwas niedriger als beim letzten Mal, als die Zinssätze dieses Niveau erreichten. In den letzten Jahren hat vor allem die Regierung Schulden angehäuft.
Bestehende Hypothekenschulden wurden ebenfalls zu längerfristigen Zinssätzen finanziert. Viele US-Haushalte nutzten die niedrigen Zinssätze aus, die während der Pandemie angeboten wurden, und eine typische Hypothek wurde für 30 Jahre abgeschlossen. Solange diese Haushalte nicht umziehen wollen oder müssen, sind sie immun gegen das, was bei der Federal Reserve vor sich geht.
In Europa nutzten die Haushalte die Pandemie-Ersparnisse auch zur Schuldentilgung. Ein höherer Anteil der Haushalte in Europa ist im Vergleich zu den USA hypothekenfrei, und die Zinsen begannen von einem viel niedrigeren Niveau aus zu steigen. Es gibt jedoch einige Regionen, in denen die Refinanzierung auf höhere Hypothekenzinsen bis 2024 noch immer eine erhebliche Belastung darstellen wird, vor allem im Vereinigten Königreich.
Bei anderen Krediten als Hypotheken ist die Situation nicht so günstig, da die Zinssätze hier immer noch weitgehend variabel sind. In den USA sind die Gesamtausgaben für Zinszahlungen in den letzten Monaten deutlich gestiegen, und die Zahlungsausfälle bei Auto- und Kreditkartenkrediten haben den höchsten Stand seit über 10 Jahren erreicht.
Auch die Unternehmen haben vor einigen Jahren von den niedrigeren Zinsen profitiert. Der Anteil der Unternehmensschulden, die zu höheren Zinssätzen refinanziert werden müssen, wird jedoch in den nächsten zwei Jahren deutlich zunehmen (siehe Sicherung von Renditen).
Die Kosten für neue Kredite sind sehr hoch. Hausbesitzer in den USA müssen heute mit einem 30-jährigen Hypothekenzins von fast 8% rechnen, was bei den derzeitigen Hauspreisen etwa 26% des mittleren Einkommens verschlingt.1 Im Vereinigten Königreich betragen die entsprechenden Werte 5% (bei einem 5-jährigen Festzinssatz) bzw. 38%.2 Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass der Wohnungsbau unter Druck steht. US-Bauträger waren relativ erfolgreich darin, die Aktivität in Gang zu halten, indem sie ihre eigenen ermäßigten Preise anboten, aber diese Anreize scheinen nicht nachhaltig zu sein. Die Ausgaben für das Baugewerbe und den Wohnungsbau werden wahrscheinlich weiterhin schwach bleiben.
Insgesamt wären wir vorsichtig bei der Vorstellung, dass die Volkswirtschaften problemlos mit Zinssätzen von 5% oder mehr in den USA und im Vereinigten Königreich und 4% in der Eurozone umgehen können. Wir gehen davon aus, dass sich der Schaden höherer Zinsen in den kommenden Monaten zunehmend in den Daten zu den Verbraucher- und Unternehmensausgaben niederschlagen wird.
Haushaltsausgaben sind wieder in Mode
Ein Faktor, der die Auswirkungen höherer Zinsen abfedert, ist die anhaltend expansive Haushaltspolitik. In den USA wurde eine Reihe von pandemiebedingten Steuermoratorien, z. B. für die Rückzahlung von Studentenkrediten, während eines Großteils des Jahres 2023 aufrechterhalten. Darüber hinaus wurden mit dem CHIPS and Science Act, dem JOBS Act und dem Inflation Reduction Act mehrjährige Konjunkturprogramme in Höhe von mehreren Billionen Dollar aufgelegt.
Auch in Europa sind die Haushaltsausgaben derzeit deutlich unterstützender als in den letzten zehn Jahren, wenngleich nicht so stark wie in den USA. In der Eurozone war das wichtigste Konjunkturpaket der Wiederaufbaufonds der Europäischen Union (EU), der jedoch nur langsam zum Einsatz kommt, da 65% der Mittel noch nicht ausgezahlt wurden.
Während diese Infrastrukturausgabenprogramme die Wirtschaftstätigkeit noch eine Weile stützen werden, müssen sich die Regierungen irgendwann darauf konzentrieren, wie sie die Bilanzen ausgleichen können. Ein Haushaltsdefizit von 6% in den USA in einer Zeit, in der sich die Arbeitslosigkeit auf einem Rekordtief befindet, ist einfach nicht tragbar, zumal die Zentralbanken keine Staatsanleihen mehr kaufen. Ein Defizit in dieser Höhe würde auch darauf hindeuten, dass diejenige Person, die 2024 für das Amt des Präsidenten kandidieren wird, dies nicht mit dem Versprechen großer Steuersenkungen tun wird.
Prognose menschlichen Verhaltens
Die letzte, aber potenziell wichtigste Komponente der Resilienz-Geschichte ist menschliches Verhalten. Da viele Menschen während der Pandemie gezwungen waren, für längere Zeit zu Hause zu bleiben, hatten sie verständlicherweise den starken Wunsch, verpasste Erlebnisse und Ferien nachzuholen.
Diese „Lebensgeister“-Effekte, gepaart mit aufgestauten Ersparnissen, können nicht durch historische Daten erfasst werden und sind etwas, das unsere Modelle einfach nicht vorhersagen können. Die nicht vorhersehbare Art und Weise, in der Verbraucherinnen und Verbraucher von übermäßigem Optimismus zu übermäßigem Pessimismus übergehen, ist einer der Hauptgründe für die langen und variablen Verzögerungen in der Geldpolitik und der Grund, warum es so schwierig ist, die zeitlichen Phasen des Konjunkturzyklus vorherzusagen.
Eine längere Pause der Zentralbank
Wir sehen die derzeitige Widerstandsfähigkeit der Wirtschaftsaktivität zwar als eher vorübergehend an, die gute Nachricht ist aber, dass es Anzeichen für ein Nachlassen des Inflationsdrucks gibt, nicht nur bei der Gesamtinflation, sondern auch bei den Löhnen. Da sich der Arbeitsmarkt abkühlt und der Druck auf die Lebenshaltungskosten nachlässt, stürzen sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mehr wie noch vor einem Jahr mit der Aussicht auf höhere Löhne in neue Jobs. Am offensichtlichsten ist diese Veränderung in den USA, aber auch in Europa dürfte ein ähnliches Phänomen zu beobachten sein, da die Gesamtinflation und die Neueinstellungen zurückgehen.
Die globale Inflation wurde auch durch den fehlenden Aufschwung in China begünstigt. Diese Schwäche scheint sich zu verfestigt zu haben, da Peking offenbar Probleme hat, einen neuen Wirtschaftsmotor zu finden, der nicht von Exporten oder überschüssigem Vermögen abhängig ist. Die chinesische Regierung hat zwar eine Reihe von Konjunkturmaßnahmen angekündigt, aber keine davon entspricht den großen Programmen der Vergangenheit, sodass das Wachstum in China wahrscheinlich deutlich geringer ausfallen wird als in den letzten Jahrzehnten.
Trotz dieser positiven Anzeichen sind wir der Ansicht, dass die Zentralbanken keinen frühen Sieg in Bezug auf die Inflation verkünden sollten. Wir glauben auf jeden Fall nicht an die „Rückkehr der Goldlöckchen“-Geschichte. Es ist jedoch fair zu sagen, dass das Risiko für das Verharren der Inflation in der Nähe von 5%, deutlich niedriger ist als zu Beginn des Jahres 2023.
Wichtig ist, dass die Zentralbanken, wenn die Inflation nicht auf einem hohen Niveau verharrt, die Freiheit haben, die Zinssätze zu senken, wenn die Wirtschaftsdaten Zinssenkungen rechtfertigen.
Es scheint sehr unwahrscheinlich, dass die Zentralbanken die Zinssätze vorsorglich senken, ohne dass es zu einer deutlichen Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit kommt. Da die Inflation in den letzten drei Jahren größtenteils über dem Zielwert lag, gehen wir davon aus, dass sie die Lockerung eher zu spät als zu früh vornehmen werden, um das Risiko eines erneuten Aufflammens des Inflationsproblems, an dessen Beseitigung sie so hart gearbeitet haben, zu vermeiden. Die jüngsten Arbeiten des Internationalen Währungsfonds3 zeigen, dass die Zentralbanken in der Vergangenheit häufig den Fehler gemacht haben, zu früh zu feiern, was dazu führte, dass die Inflation auf einem hohen Niveau stagnierte und sich dann wieder beschleunigte.
Ein vorsichtigerer Ansatz würde zwar bedeuten, dass die Zinssenkungen später erfolgen würden, als der Markt derzeit erwartet, wir vermuten jedoch, dass die Zentralbanken letztendlich weiter senken werden als prognostiziert. Daher machen wir uns keine Sorgen darüber, dass die Anleihenrenditen weiter steigen könnten, da die Daten darauf hindeuten, dass dies eher eine Frage des Zeitpunkts als der Richtung ist.
Zu diesen makroökonomischen Unwägbarkeiten kommen zahlreiche politische und geopolitische Unwägbarkeiten hinzu, die zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer vorherzusagen sind. Noch immer toben Kriege an mehreren Fronten, die das Potenzial haben, die Weltwirtschaft mit weiteren Rohstoffpreisschocks zu überziehen. In den USA und im Vereinigten Königreich werden harte Wahlkämpfe stattfinden, und in Anbetracht der Spannungen in China könnten auch Wahlen in anderen Ländern wie z. B. Taiwan im Mittelpunkt stehen (siehe Navigation durch den politischen Kalender).
In den folgenden Kapiteln werden die Auswirkungen dieser makroökonomischen Sichtweise auf die Anlagen beleuchtet. Es ist wichtig, die Risiken mit Demut zu betrachten und sich auf alle Szenarien vorzubereiten.
Unserer Ansicht nach sollten sich Anlegerinnen und Anleger darauf konzentrieren, die derzeit an den Kernanleihenmärkten gebotenen Renditen zu sichern. Obwohl diese Renditen unter den aktuellen Bargeldzinsen liegen, sollten Anlegerinnen und Anleger diese Situation als eine Versicherungsprämie betrachten, die sich gut auszahlen wird, wenn die Rezession stärker ausfällt als von vielen erwartet (siehe Sicherung von Renditen). Generell sollten Anlegerinnen und Anleger unserer Ansicht nach der Versuchung optisch attraktiver Bargeldzinsen widerstehen, die wir für ein Trugbild halten (siehe Bargeldzinsen sind eine Fata Morgana).
Aktien sind nicht teuer, aber auch nicht billig, insbesondere wenn man die vorsichtigeren Gewinnaussichten und die Tatsache berücksichtigt, dass die Differenz zwischen der Gewinnrendite von Aktien und Unternehmensanleihen so niedrig ist wie seit über 10 Jahren nicht mehr (siehe Aktien: Probleme bei den Gewinnspannen). Angesichts des Aufwärtspotenzials sollten Anlegerinnen und Anleger ihr Aktienengagement wahrscheinlich nicht übermäßig reduzieren, sondern sich vielmehr auf Qualitätsaktien und Ertragszahler konzentrieren.
Strukturell sind wir auch der Ansicht, dass Anlegerinnen und Anleger erkennen müssen, dass die Beziehung zwischen den Kursen von Aktien und Anleihen nicht mehr so zuverlässig negativ sein wird wie in der Vergangenheit. Insbesondere wenn die Weltwirtschaft von Kostenschocks betroffen ist, die in einer stärker fragmentierten Welt häufiger auftreten können. Bestimmte Vermögenswerte aus dem Bereich der alternativen Anlagen sowie Rohstoffe könnten die Rolle von Anleihen als Schutz vor verschiedenen wirtschaftlichen Unwettern ergänzen (siehe Gezielte Alternativen für gezielte Risiken).