Soziale Faktoren – das „S“ in ESG – sind gegenüber „E“ (Umwelt) und „G“ (Governance) in den Hintergrund getreten. Wir glauben, dass sich das bald ändern wird.
Warum jetzt?
Die Geschwindigkeit, mit der die ESG-Grundsätze in der Finanz- und Unternehmenswelt angenommen wurden, ist außergewöhnlich. Die Verbesserung der Corporate Governance (G) ist bereits eine jahrzehntelange Praxis, bei der die Unternehmensleitungen gegenüber allen Interessengruppen deutlich sichtbar rechenschaftspflichtig sind. Aktuell liegt der Fokus von Anlegern, Unternehmen und Regulierungsbehörden sehr stark auf Umweltfaktoren (E), da sich Regierungen weltweit hinter den Zielen des Pariser Abkommens versammelt haben.
Wir gehen davon aus, dass sich diese Dynamik fortsetzen wird, aber wir glauben, dass die sozialen Faktoren (S) spürbar in den Vordergrund rücken werden. Aber warum glauben wir das und warum gerade jetzt? Die Antwort ist die Covid-19-Pandemie, die so viele Probleme aufgedeckt hat, die durch die immer größer werdende Kluft in der Gesellschaft entstehen. Warum ist eine gute Gesundheitsfürsorge – zu der jetzt auch der Impfstoff gehört – nicht einheitlich für alle verfügbar? Warum mussten viele Kinder durch die Pandemie auf Bildung verzichten, weil sie keinen Zugang zur digitalen Infrastruktur hatten?
Die 2015 von den Vereinten Nationen aufgestellten Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) sind ein weiterer Anstoß, die durch Ungleichheit verursachten Schäden am gesellschaftlichen Gefüge zu bekämpfen. Und der Unternehmenssektor hat erkannt, dass er dabei eine wichtige Rolle zu spielen hat. Die Unternehmen verfolgen zunehmend soziale Initiativen, so wie sie auch ökologische Schritte ergriffen haben.
Aber warum sollte das Anleger interessieren? Sind die Bemühungen der Unternehmen, die S-Faktoren anzugehen, nur ein Kästchen zum Abhaken oder eine Ablenkung von ihren eigentlichen Zielen? Das glauben wir nicht. Wir sehen das S als den nächsten großen Megatrend im Bereich der nachhaltigen Investitionen. Zudem erwarten wir, dass Unternehmen, die sich auf den sozialen Fortschritt konzentrieren, immer öfter einen Bewertungsaufschlag erhalten werden. Das ist bereits bei Firmen der Fall, die sich mit dem Klima befassen. Soziale Initiativen als Investitionsschwerpunkt befinden sich noch in einem frühen Stadium. Deshalb sind wir der Meinung, dass es eine gute Gelegenheit gibt, jetzt in diese Unternehmen zu investieren. Gleichzeitig kann man so mit ihnen einen aktiven Dialog führen, der die soziale Agenda vorantreibt.
Der nächste Megatrend
Wir betrachten saubere Energie als ein gutes Beispiel dafür, wie sich die deutlich sichtbare Konzentration auf einige der S-Faktoren für die Anleger auswirken könnte. Der Markt belohnt Unternehmen aus dem Bereich der sauberen Energien vermehrt mit einem höheren Bewertungsmultiplikator. Einerseits spiegelt das ihre Chancen auf Gewinnwachstum wider, da die Welt nach Lösungen für das Klimaproblem sucht, und andererseits die Bereitschaft der Anleger, ihre Werte mit ihren finanziellen Ambitionen in Einklang zu bringen.
Quelle: Bloomberg, J.P. Morgan Asset Management; Stand der Daten: Juni 2021. Basket für saubere Energie definiert von J.P. Morgan Asset Management als arithmetisches Mittel eines Baskets von Namen, die verschiedene Aspekte der Energiewende repräsentieren: Ørsted, RWE, Iberdrola, Enel, SSE, Neste, Vestas, Siemens Gamesa, Prysmian, Tesla, Schneider, Nextera, First Solar, Sun Power, Signify.
Wir sind der Auffassung, dass sich ein ähnlicher langfristiger Trend bei Unternehmen abzeichnen könnte, die sich auf einige S-Aspekte konzentrieren. Nach unserer Einschätzung ist das erst der Anfang. Auch hier gibt es zwei Faktoren. Erstens hat gutes S das Potenzial, die finanzielle Performance zu verbessern –darauf gehen wir weiter unten ein. Zweitens glauben wir, dass die Anleger wie bei E bereit sein werden, einen Aufschlag für Aktien zu zahlen. Insbesondere für Titel, die eine wichtige Rolle beim gesellschaftlichen Fortschritt spielen. Die breiten Zuflüsse in nachhaltige Fonds deuten darauf hin, dass dieser Trend in vollem Gange ist. Spezielle Sozialfonds befinden sich jedoch noch in den Kinderschuhen. Seit Anfang 2012 sind rund 488 Mrd. USD in nachhaltige Fonds geflossen, aber nur 30 Mrd. USD davon in Sozialfonds. Wie bei den Klimainvestitionen erwarten wir auch hier einen raschen Wandel.
Die Erfassung des S
Wie können Anleger Unternehmen mit einer starken Ausrichtung auf das S erkennen? Der Ansatzpunkt ist intern: Die Unternehmen müssen ihr eigenes Haus in Ordnung bringen. Erst dann können wir darüber nachdenken, ob sie etwas Gutes für die Gesellschaft tun. Zu den wichtigsten internen Faktoren, die sich auf unsere Bewertung der S-Credentials eines Unternehmens auswirken, gehören: Diversität und Integration, das „Empowerment“ der Mitarbeiter und die Beziehungen zur Lieferkette. Firmen, die diese internen sozialen Praktiken nicht richtig umsetzen, werden von ihren Kunden immer häufiger kritisch beäugt und haben Reputationsrisiken. Man denke nur an die Skandale um die Arbeitspraktiken der Apple-Zulieferer in China oder Sports Direct im Vereinigten Königreich.
Interne soziale Fragen können sich auf verschiedene Weise äußern, von geschlechtsspezifischen Lohnunterschieden über unzureichende Arbeitsrechte bis hin zu unzufriedenen Mitarbeitern. Wenn die interne Kultur integrativ und vielfältig ist, die Mitarbeiter zufriedener sind und die Zulieferer fair behandelt werden, dann wird das Unternehmen produktiver und kreativer sein. Dies wird durch Untersuchungen von McKinsey bestätigt. Sie zeigten, dass Unternehmen, die in Bezug auf ethnische und geschlechtsspezifische Vielfalt im oberen Quartil liegen, mit 36% bzw. 25% höherer Wahrscheinlichkeit gute Geschäftsergebnisse aufweisen. Und diese führen letztlich zu einer besseren Aktienkursentwicklung.
Von außen betrachtet sind starke S-Unternehmen diejenigen, die Lösungen für einige der größten Herausforderungen bieten. Sie erstrecken sich vom Ausbau einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung bis hin zum gleichberechtigten Zugang zur Technologie. Indem sie dringende Probleme angehen und neue Kundenkreise unterstützen, bieten diese Firmen unserer Meinung nach gute Wachstumschancen. Ähnlich wie bei der Klimainnovation, dürften sie durch politische und regulatorische Veränderungen gefördert werden.
Branchenübergreifende Chancen
Wir sind der Meinung, dass Investitionen mit Fokus auf das S eine gute Möglichkeit bieten, das langfristige Wachstum über alle Sektoren hinweg zu erfassen. Anleger sind außerdem in der Lage, Teil der Lösung für die durch Ungleichheit entstandenen Probleme zu sein. Wir haben sieben Unterthemen identifiziert, die sich mit 11 der 17 UN-SDGs decken. Zu jedem Unterthema geben wir ein Beispiel für ein Unternehmen, das wir durch unser Research und Engagement als S-Leader identifiziert haben. Diese Beispiele dienen nur zur Veranschaulichung. Die Nennung dieser Firmennamen ist nicht als Kauf- oder Verkaufsempfehlung zu verstehen. Ihre frühere Wertentwicklung sollte nicht als verlässlicher Indikator für ihre aktuellen oder zukünftigen Ergebnisse angesehen werden.
Sozialen Schutz bieten
SDGs: 8 16
Unternehmen, die die Gesellschaft schützen und das Recht gewährleisten, in Frieden zu leben, zu arbeiten und sich und seine Familie zu schützen.
Beispiel: AIA Gruppe
Die AIA Group ist Marktführer bei der Bereitstellung von Lebens- und Krankenversicherungsprodukten in Südostasien (einschließlich China). Obwohl für die Region bis 2050 der weltweit größte Anstieg der über 65-Jährigen prognostiziert wird, ist die Durchdringung mit Lebensversicherungen mit Raten von 1 bis 3,5% in vielen der AIA-Schlüsselmärkte immer noch sehr gering, verglichen mit fast 10% in vielen entwickelten Märkten. Im Jahr 2020 erbrachte der AIA 13 Millionen Leistungszahlungen von über 16 Milliarden USD, die Kunden und Familien bei der Bewältigung persönlicher Probleme halfen.
Gesundheit und Wohlbefinden
SDGs: 3
Unternehmen, die in Lösungen für körperliche und geistige Gesundheit und Wellness investieren und diese anbieten.
Beispiel: Novo Nordisk
Novo Nordisk ist ein Marktführer bei der Behandlung von Diabetes (Insulin) und Fettleibigkeit (GLP-1). Die Bereitstellung von erschwinglichem und sogar kostenlosem Insulin wurde während der Pandemie erheblich ausgeweitet. Das Unternehmen hat kürzlich die Zulassung für ein neues Medikament, Wegovy, zur Behandlung von Fettleibigkeit erhalten. Aus einer aktuellen Studie der Weltgesundheitsorganisation geht hervor, dass weltweit 650 Millionen Menschen an Fettleibigkeit leiden.
Aus- und Weiterbildung von Talenten
SDGs: 4 8 10
Unternehmen, die Bildungsmaterialien und -plattformen für die gesamte Gesellschaft bereitstellen oder zur Qualifizierung der Bevölkerung beitragen.
Beispiel: RELX
Das Geschäftsfeld Wissenschaft, Technik und Medizin von RELX ist weltweit führend in der Bereitstellung von Referenzmaterialien und Erkenntnissen mit Hilfe der Zeitschriften Cell und The Lancet. Forschern und medizinischen Fachkräften wird auf diese Weise geholfen, die Wissenschaft voranzubringen und die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Analyseprodukte wie Clinical Key helfen den Nutzern, die relevantesten Antworten zu finden, indem sie eine große Bandbreite und Tiefe an verlässlichen Inhalten über alle Fachgebiete hinweg bieten. Die anhaltende Covid-Pandemie hat zu einem erheblichen Anstieg der wissenschaftlichen Forschung geführt, die RELX frei zugänglich gemacht hat. Relx hat in der Vergangenheit ein beständiges und stabiles Gewinnwachstum gezeigt. Wir gehen davon aus, dass sich dieses Wachstumsprofil fortsetzt, glauben aber auch, dass eine Beschleunigung möglich ist.
Bezahlbarer Wohnraum und bezahlbare Infrastruktur
SDGs: 9 11
Unternehmen, die erschwinglichen Wohnraum und Infrastruktur für alle bereitstellen.
Beispiel: Taylor Wimpey
Taylor Wimpey ist ein Wohnungsbauunternehmen mit Sitz im Vereinigten Königreich. Fast ein Viertel der 15.000 Häuser, die das Unternehmen jährlich baut, sind erschwinglich. Taylor Wimpey leistet auch einen Beitrag zur lokalen Gemeinschaft durch Gemeinschafts- und Freizeiteinrichtungen, Verkehrsinfrastruktur, Bildungsförderung, Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung sowie öffentliche Kunst- und Grünanlagen. Taylor Wimpey bietet eine attraktive Dividendenrendite von 8%.
Grundlegende Annehmlichkeiten für alle
SDGs: 1 2 6
Unternehmen, die Produkte oder Lösungen für die Grundbedürfnisse des menschlichen Lebens anbieten.
Beispiel: Walmart in Mexiko
Walmart de Mexico ist ein mexikanisches Einzelhandelsunternehmen, das lebenswichtige Güter für die breite Bevölkerung anbietet. Im Jahr 2020 spendete das Unternehmen 34.400 Tonnen Lebensmittel an lokale Gemeinde und unterstützte 102 Lebensmittelbanken. Walmex fördert aktiv eine integrative und lokale Lieferantenbasis, wobei 92% der Selbstbedienungslieferanten KMU sind. Auch bei der Geschlechtervielfalt ist das Unternehmen führend: 52% der Beförderungen entfielen 2020 auf Mitarbeiterinnen. Wir glauben, dass Walmex gut positioniert ist, um ein Umsatzwachstum zu erzielen. Es wird durch das Bevölkerungswachstum und gleichzeitige Verbesserung der (und teilweise durch die Diversität bedingten) finanziellen Produktivität vorangetrieben.
Zugang zum digitalen Ökosystem
SDGs: 1 2 6
Unternehmen, die den digitalen Zugang durch Hardware, Software oder Plattforminfrastruktur erleichtern.
Beispiel: Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC)
TSMC ist der weltweit größte Hersteller von Halbleitern. Im SDG-Rahmen der Vereinten Nationen wurde festgestellt, dass nur einer von fünf Menschen in den weniger entwickelten Ländern Zugang zum Internet hat, ganz zu schweigen von einer erschwinglichen Computerausrüstung. Der wachsende Produktionsumfang bei TSMC bedeutet niedrigere Kosten und trägt dazu bei, dass Computerausrüstung erschwinglich wird.
Günstige Finanzierung
SDGs: 1 8
Unternehmen, die Finanzdienstleistungen für alle anbieten oder Mikrofinanzierungslösungen bereitstellen.
Anlagebeispiel: Finecobank
Finecobank ist eine reine Online-Finanzdienstleistungs- und Anlageplattform mit Sitz in Italien, die nun europaweit expandiert. Laut einer aktuellen Studie der Citigroup haben Italiener insgesamt 2 Billionen EUR an Ersparnissen auf Bankkonten, die geringe bis negative Renditen abwerfen. Fineco legt einen strategischen Schwerpunkt auf eine faire Preisgestaltung und bietet äußerst erschwingliche Produkte an, die dazu beitragen, dass Investitionen für alle zugänglich sind.
Fazit
Das S wurde als das übersehene mittlere Kind der ESG bezeichnet, aber wir glauben, dass sich das bald ändern wird. Wir sehen das S-Thema als überzeugende Anlagemöglichkeit, wobei einige S-Faktoren das Potenzial haben, sich auf dem gleichen Weg wie saubere Energie auszuzahlen: eine Kombination aus höherem Wachstum und einem Bewertungsaufschlag. Daher sind wir der Ansicht, dass gute Unternehmen, die Gutes für die Welt tun, dies immer mehr in ihren Aktienkursen widerspiegeln werden.
1 Source: Bank of America Global Research team, July 2021
2 Source: McKinsey, ‘Diversity wins: How inclusion matters’, 19 May 2020. www.mckinsey.com
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