Soziale Faktoren – das „S“ in ESG – waren bereits bevor Nachhaltigkeit für Anleger zum Mainstream-Thema wurde ein wichtiger Katalysator der Unternehmensperformance in Schwellenländern.
Manchmal sind es die einfachsten Fragen, die die größten Erkenntnisse ermöglichen. Zum Beispiel diese: Warum werden Umwelt-, Sozial- und Governance-Faktoren überhaupt als „ESG“ zusammengefasst? Auf den ersten Blick scheint es sich doch um drei recht unterschiedliche Bereiche zu handeln. Nachdem wir zuerst diese grundlegende Frage beantworten, werden wir auf dieser Basis die Bedeutung sozialer Themen für uns als Investoren in Schwellenländern untersuchen.
Eine der ersten Lektionen in der Wirtschaftstheorie ist die, dass die gesamte Wirtschaftsleistung von einem dieser vier Produktionsfaktoren stammt: Arbeit, Boden, Kapital und Unternehmertum. Eine Definition wirtschaftlicher Nachhaltigkeit muss daher erklären, wie sich Qualität und Dauer dieser Faktoren maximieren lassen.
Aus dieser Perspektive ergibt das Konzept „Umwelt, Soziales und Governance“ plötzlich mehr Sinn. Es handelt sich nicht um drei unterschiedliche Faktoren, sondern um eine umfassende Perspektive der Beziehung zwischen Unternehmen und den Produktionsfaktoren..
· Der Aspekt „Umwelt“ vermittelt die Beziehung zwischen einem Unternehmen und dem Boden (also den natürlichen Ressourcen, die es benötigt).
· Der Aspekt „Governance“ vermittelt die Beziehung zwischen einem Unternehmen, seinen Kapitalgebern und gegebenenfalls seinen Gründern.
· Der Aspekt „Soziales“ ist das fehlende Puzzleteil, das die Beziehung zwischen einem Unternehmen und dem Faktor Arbeit vermittelt, wobei dies eng definiert nur die Arbeitskräfte des Unternehmens umfasst, aber auch breiter gesehen werden kann (mit den Kunden, Lieferanten und Gemeinschaften)..
Diese Erklärung macht auch einige andere wichtige Zusammenhänge klar. Sie zeigt beispielsweise, warum die Begriffe ESG und Nachhaltigkeit synonym gebraucht werden können: Um nachhaltiges Wachstum zu gewährleisten, müssen die Faktoren, die für ein Wachsen der Produktion erforderlich sind, von den Teilnehmern der Wirtschaft wirksam gemanagt werden - wobei für uns als Anleger die Unternehmen am wichtigsten sind.
Sie erklärt auch, warum ESG und das Gewinnmotiv nicht voneinander getrennt betrachtet werden dürfen: Rentable Unternehmen schaffen mehr Kapital, und Kapital ist einer der Faktoren, der für das Wachstum der wirtschaftlichen Aktivität erforderlich ist. Um diese Diskussion in reale Investments einzubeziehen, berücksichtigt das 98-Fragen- Risikoprofil, das wir als Kernbestandteil unseres Research-Prozesses in Schwellenländern nutzen, sowohl ESG-Aspekte als auch weiter gefasste Fragen der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit.
In Schwellenländern ist das durchschnittliche Haushaltseinkommen niedriger und es gibt ein höheres Maß an Ungleichheit in der Bevölkerung. Auch greifen die Staaten häufiger in die Binnen-wirtschaft ein. Zusammengenommen bedeuten diese Faktoren, dass Unternehmen, die soziale Fragen ausklammern, dafür oft einen hohen Preis zahlen, sowohl beim Verbrauchervertrauen als auch bei ihren Regulierungsbehörden. Umgekehrt können Unternehmen, die positive Veränderungen auf individueller, gemeinschaftlicher oder nationaler Ebene herbeiführen, einen erheblichen Mehrwert schaffen.
Dies lässt sich anhand von drei Beispielen verdeutlichen:
1. Die Beziehung zwischen einem Unternehmen und den Arbeitskräften. Es ist einleuchtend, dass sich Unternehmen mit zufriedeneren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besser entwickeln. Wir glauben aber, dass dies insbesondere in den Schwellenländern der Fall ist, wo die Kluft zwischen durchschnittlichen und den besten Arbeitsumfeldern sicherlich um einiges größer ist. Aus diesem Grund ist die Mitarbeiterfluktuation eine der wichtigsten Kennzahlen, die wir für alle unsere Investments beobachten. Falls Unternehmen diese Kennzahl nicht veröffentlichen, werden sie von uns dazu aufgefordert. Im Mittelpunkt unseres Anlagearguments für Tata Consultancy Services (TCS) steht die Tatsache, dass die aktuelle Mitarbeiterfluk-tuationsrate von 7 % um ein Drittel bis um die Hälfte niedriger liegt als bei der Vergleichsgruppe, was einen positiven Kreislauf zwischen Mitarbeiterzufriedenheit, Kundenzufriedenheit und Wachstum schafft.
Abb. 1: TCS Mitarbeiterzahlen
Quelle: TCS Jahresberichte
Wie sorgt das Unternehmen für Mitarbeiterzufriedenheit?
- Die Angestellten können autonom eigene Entscheidungen treffen, was sich auch in der Organisationsstruktur zeigt. Mit einem Umsatz von 25 Mrd. USD und einer Belegschaft von 500.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, besteht das Unternehmen aus 50 separaten Geschäftseinheiten, jede mit ihrer eigenen GuV und einem „Mini-CEO“. In diesen kommen auch jüngere Manager in Entscheidungspositionen und die Struktur ermöglicht eine schnellere Entscheidungsfindung.
- Das Wohlergehen der Angestellten steht im Mittelpunkt von Managemententscheidungen. Covid-19 verursachte erhebliche Störungen für den indischen Technologiesektor. TCS schickte nicht nur die Arbeitskräfte ohne Geschäftsverlust nach Hause, sondern entwickelte auch ein neues Arbeitsmodell, Secure Borderless Workspaces™, das zum Industriestandard für verteilt arbeitende Teams geworden ist. Das Unternehmen organisierte direkt Impfstoffe für alle Angestellten und ihre Familien und stellte für sie eine medizinische 24/7-Notrufnummer zur Verfügung.
- Möglichkeiten zur Weiterbildung werden angeboten, so haben TSC Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im letzten Geschäftsjahr über 43 Millionen Stunden für Weiterbildung genutzt. Das Unternehmen hat interne Lernplattformen entwickelt, um die Mitarbeiterbeteiligung durch Gamification und durch die Verknüpfung der erworbenen Fähigkeiten mit Karriere-möglichkeiten zu fördern.
Quelle: TCS Geschäftsbericht
Wie hat es sich in den Geschäftsergebnissen niedergeschlagen, dass die Arbeitskräfte besser behandelt wurden? Im Laufe der Zeit hat die niedrigere Fluktuationsrate von TCS zu einer besseren Kundenbetreuung und einem überdurchschnittlichen Gewinnwachstum geführt. Dies belegt die Mitarbeiterfluktuation und das Gewinn-wachstum im Vergleich zu dem wichtigsten Wettbewerber.
2. Die Beziehung eines Unternehmens zur Gesellschaft. Die Frage „Wie können wir das Leben der Menschen verbessern?“ war in den letzten Jahren in Schwellenländern besonders nutzbringend. Safaricom, der führende Telekommunikationsbetreiber in Kenia, startete 2007 seinen mobilen Gelddienst M-Pesa, um dem hohen inländischen Bevölkerung-santeil ohne eigenes Bankkonto Finanz-dienstleistungen zu ermöglichen. Dies war eines der weltweit ersten Programme zur finanziellen Inklusion in ganz großem Rahmen, das viele weitere Vorteile mit sich brachte.
· Größere Produktivität und mehr Arbeitsplätze. Obwohl Safaricom nur 6.230 Festangestellte, vertraglich gebundene und befristete Angestellte hat, werden mehr als eine Million Arbeitsplätze direkt und indirekt in der lokalen Wirtschaft unterstützt.
· Ermöglichen digitaler Zahlungen. Durch die Möglichkeit eines landesweiten digitalen Zahlungsweges konnte die kenianische Regierung während der Covid-19-Krise Zahlungen effizient und sicher an ihre Bevölkerung verteilen. Safaricom setzte die Gebühren für Geldtransfers unter 1.000 KES aus, um die Bevölkerung zu ermutigen, elektronisches Zahlungen anstelle von Bargeld zu verwenden und so das Ansteckungsrisiko zu reduzieren.
· Unterstützung von Gemeinschaften. Das Geschäft von Safaricom ist rentabel genug, um überschüssiges Kapital zu schaffen, das das Unternehmen wieder in Gemeinschaftsprojekte investieren kann. Im Jahr 2021 startete das Unternehmen beispielsweise die Initiative „Keeping Girls in School“, mit der es drei Monate lang Artikel für die Monatshygiene sowie Informationen zur Menstruation an rund 800.000 Mädchen verteilte.
Safaricom setzte die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung bereits sehr früh um und richtete seine Strategie schon 2016 an diesen Zielen aus. Davon profitiert nicht nur die lokale Gesellschaft: Safaricom ist auch eine sensationelle Investition, deren Gewinne in den letzten zehn Jahren um das Fünffache und deren Aktien um das Zehnfache gestiegen sind. Dies zeigt, dass ein Unternehmen sehr wohl eine positive gesellschaftlicher Wirkung mit profitablem Wachstum und Rendite für die Aktionäre vereinbaren kann.
Abb. 4: Safaricom Geschäftsbericht- Bewertung des wahren Werts
Quelle: Auszüge aus dem Jahresbericht von Safaricom, 31. März 2021.
3. Die Beziehung zwischen einem Unternehmen und seinen Kunden und den Regulierungsbehörden. Immer wieder konnten wir beobachten, dass die Nichteinhaltung sozialer Verpflichtungen gegenüber Kunden Unternehmen langfristig schadet. Dies zeigt sich insbesondere in Schwellenländern, wo der Staat oft interventio-nistischer ist als in den Industrieländern. Sehen wir uns China als Beispiel an. Der Säuglingsmilchskandal von 2008, bei dem fest-gestellt wurde, dass Babynahrung Melamin enthält, hallt auch heute noch auf dem Markt nach, sodass ausländische Akteure aufgrund des Misstrauens gegenüber inländischen Marken immer noch einen Großteil des Marktes kontrollieren. Oder auch die regulatorischen und Reputationsprobleme, denen sich Baidu im Jahr 2016 gegen-übergestellt sah, als seine Suchmaschine potenziell gefährliche medizinische Behandlungen bewarb, bewarb. Der Vertrauensverlust hielt über mehrere Jahre an und das Unternehmen büßte seine einst dominante Position als Informationsquelle ein.
Natürlich kann mit der richtigen Strategie das Vertrauen der Verbraucher zurückgewonnen werden. Ein Führungswechsel und eine neue Unternehmensstrategie ermöglichten es beispielsweise Yum China, die Herzen der Verbraucher nach einem Lebensmittelqualitätsskandal im Jahr 2015 zurückzugewinnen. Wir sehen das Unternehmen inzwischen als führend in Sachen Nachhaltigkeit. Wie hat Yum China sein Image gerettet? Das Unternehmen hat konsequent „gute“ Entscheidungen über kurzfristige Gewinne gestellt.
• Priorisierung von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Das Unternehmen hat sichergestellt, dass die Löhne und Arbeitsbedingungen deutlich über den gesetzlichen Mindest-anforderungen oder dem Branchenstandard liegen. Dies geht über grundlegende Finanzpakete hinaus – zum Beispiel bot es Restaurantmanagern und ihren Familien zu Beginn der Covid- 19-Pandemie eine Krankenversicherung an. Ein noch einfacheres Beispiel: Lieferfahrer, die für KFC arbeiten, erhalten stark subventionierte Mahlzeiten, was bei ihren Kollegen, die für andere Lieferdienste arbeiten, nicht der Fall ist.
• Investitionen in Lebensmittelsicherheitsstandards. Yum China hat erhebliche Summen investiert, um die Einhaltung von Lebensmittelsicherheitsstandards sicherzustellen. Zuletzt wurden mehrere hundert Millionen US-Dollar in einen Geflügel-züchter investiert, der Hauptlieferant des Unternehmens ist. Dies mag kurzsichtigen Anlegern, die „Asset-light“-Unternehmen bevorzugen, nicht gefallen. Yum China strebt aber einen ausgewogeneren, langfristigeren Ansatz an. Selbst mit dieser Investition kann das Unternehmen attraktive Gewinne und freien Cashflow erzielen und hat sich damit Ressourcen gesichert, um solche Ergebnisse auch in Zukunft zu erreichen.
• Unterstützung von Gemeinschaften. Das Unternehmen hat seine physische Infrastruktur – mehr als 10.000 Geschäfte und 400.000 Angestellte – als Ausgangsbasis genutzt, um den lokalen Gemeinschaften Nutzen zu bringen. Ein Beispiel ist die Einrichtung von Bildungsinitiativen wie Leseclubs. Diese Aktivitäten haben die Arbeitsmoral der Angestellten bestärkt, gleichzeitig konnte die Markenqualität gestärkt und die Regierungsbeziehungen verbessert werden.
Quelle: Auszüge aus dem Geschäftsbericht von Yum China: http://www.yumchina.com Die in diesem Artikel genannten Unternehmen dienen lediglich der Veranschaulichung. Ihre Nennung ist nicht als Kauf- oder Verkaufsempfehlung zu verstehen.
Fazit
Soziale Themen sind in Schwellenländern besonders wichtig, denn die Lücke zwischen den Spitzenreitern und Nachzüglern ist groß, und die Chancen für Unternehmen, die soziale Probleme angehen, sind enorm. Aus diesem Grund sollte die Einbindung sozialer Fragen in die Entscheidungsfindung ein wesentlicher Bestandteil jedes Investmentansatzes in den Schwellenländern sein.