Aktienresearch: Neuausrichtung der Stakeholderbeziehungen im Zuge der COVID-19 Krise
Mark Ferguson
Wie viele Investoren denken auch wir über die möglichen langfristigen Auswirkungen der COVID-19-Krise nach. Es ist natürlich noch sehr früh, aber wir glauben, dass die Folgen der Pandemie das Verhältnis zwischen Unternehmen, ihren Stakeholdern und dem Staat auf eine Weise verändern könnten, die unter Umständen bedeutende langfristige Konsequenzen für Aktieninvestoren nach sich ziehen wird.
In diesem Artikel betrachten wir zwei Aspekte dieses Themas: ESG und die Neuausrichtung der Stakeholder-Interessen sowie Konjunkturanreize und die Wahrscheinlichkeit höherer Steuern und aufgeblähter Staatsschulden.
ESG und die Neuausrichtung der Stakeholder-Interessen
Seit dem ersten Ausbruch des Coronavirus haben sich viele Unternehmen bemüht, ihren Beschäftigten und Kunden zu helfen, die besonders anfällig für die mit COVID-19 verbundenen finanziellen und gesundheitlichen Risiken sind. Dies hat oft zu Maßnahmen geführt, die den Stakeholdern (einschließlich der Angestellten und der Gesellschaft insgesamt) auf kurze Sicht eher zugutekommen als den Aktionären. Es ist jedoch unklar, inwiefern diese Entwicklung von Dauer ist.
Zu diesen Maßnahmen zählen Einschnitte bei Dividenden und Aktienrückkäufen. Damit kehrt sich der Trend aus der Zeit nach der Finanzkrise um, der mit steigenden Ausschüttungsquoten und Rückkäufen einherging. Diese wurden häufig durch die Emission von Unternehmensanleihen finanziert, vor allem in den USA. Höhere Dividenden und Rückkäufe gingen zugunsten der Kapitaleigner, die ihre Erträge dadurch erheblich steigern konnten. In den letzten 20 Jahren hat zudem ein wachsender Anteil der Unternehmen im S&P 500 die CEO-Gehälter an die Aktionärsrenditen gekoppelt.
Angesichts der globalen Pandemie kürzen die Unternehmen sowohl ihre Dividenden als auch ihre Rückkaufprogramme. Gleichzeitig bemühen sie sich darum, ihren Kunden und Angestellten zu helfen. Zum Beispiel kündigte das britische Immobilienunternehmen Rightmove eine deutliche Senkung der Gebühren an, die es von unabhängigen Immobilien- und Vermietungsmaklern verlangt. Die Banken gaben den Aufschub von Tilgungszahlungen bekannt, und die US-Autoversicherer haben sich bereit erklärt, einen Teil der Gewinnüberschüsse zu erstatten, die sich durch die geringere Unfallhäufigkeit aufgrund der niedrigeren Kilometerleistung während der Krise ergeben. Ein führendes europäisches Luxusgüterunternehmen stellt in seinen Parfümfabriken Händedesinfektionsmittel her und plant den Vertrieb von 40 Millionen Gesichtsmasken.
In den Schwellenländern leiten die Unternehmen ähnliche Schritte ein, um ihre Gemeinschaften, Mitarbeiter und Geschäftspartner zu unterstützen. Kurz nach Beginn der Pandemie versorgte eine führende chinesische Restaurantkette die Rettungskräfte in der chinesischen Provinz Wuhan, wo das Virus erstmals auftrat, mit kostenlosen Mahlzeiten und führte Krankenversicherungen für alle Restaurantmanager ein. Um die Nachfrage nach persönlicher Schutzausrüstung für medizinisches Personal zu decken, entwickelte ein in Belarus ansässiges Unternehmen für digitales Design eine OP-Maske, die in 3D gedruckt werden kann. Der Entwurf und die Herstellungsanweisungen sind kostenlos. In Brasilien bot ein großer Einzelhändler seinen Lieferanten verschiedene Arten von Unterstützung an, u. a. erweiterte Kreditlinien und Hilfe beim Zugang zu Marktfinanzierungen.
Bereits vor COVID-19 war das zunehmende soziale Verantwortungsbewusstsein der Unternehmen zu beobachten, das in der Krise wahrscheinlich als Differenzierungsmerkmal an Bedeutung gewinnt. Wenn die Krise überstanden ist, wird dieser Faktor eventuell etwas nachlassen, aber wir glauben nicht, dass er gänzlich verschwindet. Insofern könnte es in den Stakeholder-freundlicheren Unternehmen, vor allem in Europa, zu einer verminderten Rentabilität und geringeren Dividendenausschüttungen kommen. Auf der anderen Seite haben Unternehmen, die „Teil der Lösung“ sein können (zum Beispiel im Bereich Technologie, Gesundheitswesen und Banken), nun die Möglichkeit, ihr Ansehen bei den Aufsichtsbehörden und in der Gesellschaft zu verbessern.
Finanzielle Anreize, höhere Steuern und Staatsverschuldung
Da die meisten Länder der Welt beispiellose fiskal- und geldpolitische Konjunkturpakete geschnürt haben, um den Schock des coronabedingten Lockdowns zu mildern, ist mit einem erheblichen Anstieg der Haushaltsdefizite und der Staatsverschuldung zu rechnen. Die höheren Ausgaben für die Gesundheitsversorgung und die Sozialsysteme könnten diesen Effekt noch verstärken. Deshalb müssen die Steuern möglicherweise erhöht werden, um diese Hilfsprogramme zu finanzieren.
Die bisher angekündigten Fiskalanreize übersteigen die während der globalen Finanzkrise von 2008–2009 ergriffenen Maßnahmen bereits bei weitem (Abbildung 1). Wenn die Regierungen die Steuern erhöhen, um zu verhindern, dass die Etatdefizite außer Kontrolle geraten, gehen wir davon aus, dass wohlhabendere Privathaushalte einen größeren Anteil des nationalen Steueraufkommens ausmachen werden. Auf politischer Ebene könnten wichtige Entscheidungen über das Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern (die Einkommensteuer ist eine direkte Steuer, während die Umsatzsteuer zu den indirekten Steuern zählt) und die Besteuerung von Arbeit bzw. Kapital anstehen. Werden bestehende Steuererleichterungen aufgehoben? Werden neue Steuern eingeführt? Dies sind einige der Fragen, die sich auf die Unternehmensgewinne und die Aktienmärkte auswirken werden.
Die angekündigten Konjunkturpakete gehen weit über die Maßnahmen während der globalen Finanzkrise hinaus
ABBILDUNG 1: VERÄNDERUNG DES KONJUNKTURBEREINIGTEN PRIMÄRSALDOS IN PROZENT DES GLOBALEN BIP
Es ist noch zu früh, um darüber zu spekulieren, wie sich die politischen Entscheidungen im Einzelnen auf Wirtschaftszweige und Unternehmen auswirken werden, aber sie könnten weitreichende Folgen haben. Die bevorstehenden US-Wahlen sorgen für zusätzliche Unsicherheit: Ein Durchmarsch der Demokraten könnte eine Erhöhung des Körperschaftsteuersatzes zur Folge haben, um die jüngsten Konjunkturanreize zu finanzieren. Dies würde wahrscheinlich einige der eher binnenorientierten Unternehmen belasten, die von der Steuerreform 2018 erheblich profitiert haben. Wir glauben jedoch, dass der Effekt ziemlich breit verteilt wäre.
Die verstärkten Anreize gingen mit einer weitaus höheren Emission von Staatsanleihen einher, ein weiterer Faktor, der sich auf die Unternehmenslandschaft auswirken wird. Die wachsende Schuldenlast legt nahe, dass das Risiko einer untragbaren Staatsverschuldung und staatlicher Zahlungsausfälle in vielen Ländern erheblich zunehmen dürfte. Zum Beispiel wird die Verschuldung in Südafrika, das kürzlich seinen Investment-Grade-Status verloren hat, wahrscheinlich bald die Marke von 80 % des BIP überschreiten, die in Schwellenländern häufig als Auslöser einer Staatsschuldenkrise angesehen wird.
Fazit
Aus unserer Sicht besitzt die COVID-19-Krise das Potenzial, die Beziehungen zwischen Unternehmen, ihren Stakeholdern und dem Staat auf eine Weise zu verändern, die subtile, aber bedeutsame langfristige Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Das gilt insbesondere für die Regulierung und die Freiheit des Kapitaleinsatzes. Außerdem glauben wir, dass die staatlichen Anreize zwar kurzfristig zu begrüßen sind, langfristig jedoch zu höheren Steuern führen könnten, mit unvorhersehbaren Auswirkungen auf die Unternehmen. Wir behalten all diese Risiken im Auge, während wir die Unternehmen und Sektoren der gesamten Weltwirtschaft analysieren.