Mehr als drei Viertel der besseren Wertentwicklung von US-Aktien im Vergleich zu europäischen Aktien seit Anfang 2017 liegt an den Sektoren US-Technologie und europäische Finanzwerte.
Hugh Gimber
Seit der globalen Finanzkrise war die Entwicklung an den Aktienmärkten vor allem durch die Outperformance von US-Aktien gegenüber ihren europäischen Pendants geprägt. Wir widmen wir uns nun der Frage, wie die zwei Sektoren Technologie und Finanzen eine wesentliche Rolle dabei spielten, das Auseinanderdriften der beiden Regionen in den vergangenen zehn Jahren zu verstärken. Anschließend erörtern wir mögliche Faktoren, die eine Trendumkehr auslösen könnten.
Ein Wachstums-Handicap
Fans des Golfsports sprechen gerne über die spannenden Wettkämpfe, die zwischen den USA und Europa ausgetragen werden. Alle zwei Jahre liefern sich die besten Spieler aus beiden Regionen über drei Tage einen Wettkampf, um zu entscheiden, auf welcher Seite des Atlantiks die begehrte Trophäe landen wird. In jüngster Vergangenheit war der Ausgang dieses Turniers oftmals denkbar knapp. Häufig entschied nur ein Glückstreffer in der Endphase des Spiels über das Ergebnis.
Während die USA und Europa in den letzten Jahren auf dem Golfplatz Kopf an Kopf lagen, war in Sachen Wirtschaftswachstum das Spiel längst entschieden. Ungefähr seit dem Jahr 2010 fiel das Wachstum in der Eurozone lediglich halb so stark aus wie in den USA. Die Erholung Europas nach der globalen Finanzkrise wurde durch nicht abreißen wollende politische Krisenherde gedämpft, insbesondere durch die Staatsschuldenkrise der Jahre 2012 und 2013. Die Zusage von Präsidents der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi, „alles Erdenkliche“ zu tun, trug mit einer ganzen Reihe an Unterstützungsmaßnahmen der Notenbanken dazu bei, Europas Wirtschaft in ruhigere Fahrwasser zu lenken. Allerdings war die daraus resultierende Erholung wesentlich bescheidener als von den Entscheidungsträgern erhofft.
Das schwache Umfeld in Europa ist teilweise für die geringen Gewinne vieler europäischer Unternehmen verantwortlich, während in den USA die Unternehmen ihre Erträge solide ausbauen konnten. Seit 2010 können Letztere Kursgewinne von 170 % vorweisen. Im Vergleich dazu wurden in Europa seitdem nur 59 % erzielt. In den letzten beiden Jahren trugen Steuersenkungen dazu bei, diese Divergenz noch zu vergrößern. Wie jedoch Abbildung 1 zeigt, bestand bereits vor dem jüngsten ‚Sugar Rush‘ in Bezug auf US-Gewinne eine beträchtliche Kluft.
Es ist – nicht nur – „die Wirtschaft, Dummkopf“!
Das Wirtschaftswachstum mag ein Teil des Rätsels sein. Zu berücksichtigen ist aber auch, wie Aktienindizes den verschiedenen Segmenten der Weltwirtschaft ausgesetzt sind. Ein Vergleich der durchschnittlichen Gewichtung von Sektoren in den Indizes der USA und Europas seit 2010 offenbart erhebliche Unterschiede. Europäische Referenzindizes gewichten Finanzwerte sehr stark, während der US-Aktienmarkt einen wesentlich höheren Anteil an Technologieunternehmen aufweist (Abbildung 2).
Bei genauerem Hinsehen dürften einige Anleger jedoch überrascht sein. Während US-Technologieaktien beispielsweise häufig mit den „FAANGs“ (Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google von Alphabet) gleichgesetzt werden, ist mittlerweile nur mehr eines dieser fünf Mega-Unternehmen dem Technologiesektor zuzuordnen. Die anderen fallen nunmehr unter Kommunikationsdienste und zyklische Konsumgüter. Rund drei Viertel der Technologieaktien verteilen sich nach Marktkapitalisierung relativ gleichmäßig über vier Subsektoren: Systemsoftware, technische Hardware, Datendienstleistungen und Halbleiter.
In Europa machen Banken derzeit weniger als 60 % des Finanzsektors aus (obschon der Begriff „Finanztitel“ häufig vor allem für Bankaktien verwendet wird), während Versicherer und andere Finanzdienstleister wie Vermögensverwalter und Börsen den übrigen Teil dieses Sektors stellen.
Die Verschiebungen in der Sektorzusammensetzung haben dazu geführt, dass die historische Wertentwicklung von US-Aktien ggü. europäischen Aktien eng an die Wertentwicklung von US-Technologiewerten und europäischen Finanztiteln gebunden ist. In den letzten zehn Jahren betrug die Korrelation zwischen den relativen einjährigen rollierenden Renditen dieser beiden Sektoren und den beiden Regionen beinahe 0,9. Abbildung 3 zeigt, dass es kaum Zeiträume gab, in denen US-Technologieaktien europäische Finanztitel übertroffen haben, ohne dass die USA besser abschnitten als Europa. Seit 2010 konnten US-Aktien ihre europäischen Pendants um mehr als 120 % übertreffen, wobei US-Technologiewerte und europäische Finanztitel beinahe die Hälfte dieser Diskrepanz ausmachen. Seit 2017 befinden sich US-Technologiewerte auf einem Höhenflug, während europäische Finanztitel zurückgeblieben sind, und alleine diese beiden Sektoren haben drei Viertel der Outperformance des US-Markts insgesamt bewirkt.
Auslöser für ein europäisches Revival?
Um einen möglichen Auslöser für einen Aufschwung am europäischen Aktienmarkt auf Indexebene zu identifizieren, widmen wir uns zunächst dem Ausblick von Technologiewerten gegenüber Finanztiteln. Eine Umkehr der jüngsten Trends könnte von beiden Seiten ausgehen.
Zuerst gilt es festzustellen, dass der US-Technologiesektor seit Anfang 2013 scheinbar unaufhaltsam im Aufwärtstrend liegt. Während viele Anleger häufig auf die beinahe unverschämten Bewertungen in diesem Sektor hinweisen, fällt auf, dass die Diskrepanz zwischen dem Technologiesektor und den Bewertungen des breiteren Index erst seit Beginn des letzten Jahres deutlich zugenommen hat. Dies legt die Vermutung nahe, dass ein Großteil der in den letzten Jahren verzeichneten Outperformance auf einen stärkeren Gewinnausblick zurückzuführen war (Abbildung 4).
Da die Bewertungen an den Aktienmärkten in der Spätphase des Konjunkturzyklus immer stärker in Frage gestellt werden, müssen Technologieunternehmen weiterhin unverhältnismäßig hohe Gewinne erzielen, um ihre höheren Bewertungen zu rechtfertigen. Die Möglichkeit einer strengeren Aufsicht ist ein weiteres Risiko, insbesondere wenn die Demokraten 2020 die US-Wahlen gewinnen sollten. Allerdings müssen die Anleger dabei sorgfältig zwischen Vorschriften mit spezifischen Auswirkungen auf den Technologiesektor und solchen, die eher auf auf Mega- Unternehmen (die sog. FAANG-Aktien) abzielen, unterscheiden, da diese mittlerweile verschiedenen Marktsegmenten angehören.
Der Kampf zwischen den USA und China um die Vorherrschaft im Technologiesektor ist eine weitere wesentliche Überlegung. Chinas Wunsch, in Bereichen wie Halbleiterproduktion autarker zu werden, stellt für die Nachfrage nach US-Produkten eine Gefahr dar, auch wenn US-Unternehmen in vielen Bereichen, einschließlich Cloud Computing, die Oberhand behalten. Während der Druck von Seiten chinesischer Unternehmen auf den US-Technologiesektor europäischen Aktien helfen könnte, die Diskrepanz zu verringern, würde eine weitere Eskalation des Handelskriegs die Märkte in Europa ebenfalls bedrohen, zumal die europäische Wirtschaft Europas stark vom Welthandel abhängig ist.
Ferner stellt die Möglichkeit, dass US-Steuersenkungen nach den Wahlen 2020 entweder teilweise oder ganz zurückgenommen werden, für US-Aktien ein Risiko dar. Unter ansonsten gleichen Bedingungen entspräche ein S&P 500 mit einem KGV von 17 basierend auf den Gewinnen der nächsten zwölf Monate und bei einer Körperschaftsteuer von 21 %, einem KGV von über 20 bei einer Körperschaftsteuer von 35 %. Die relativ niedrigen effektiven Steuersätze für den US-Technologiesektor vor den Steuersenkungen 2017 hatten allerdings zur Folge, dass diese Unternehmen nicht zu den größten Gewinnern zählten. Trotzdem kann die Rücknahme der Steuersenkungen nicht einfach eins zu eins gesehen werden, zumal die Konsequenzen eines solchen Schritts auch von der steuerlichen Behandlung der im Ausland erzielten Gewinne unter einem derart geänderten Besteuerungsregime abhängen würden.
In Europa geraten die Finanztitel unterdessen aus verschiedenen Gründen unter Druck, auch wenn für den Rückgang des Sektors primär das Negativzinsumfeld zitiert wird. Auch wenn die Wechselwirkung zwischen Rentabilität im Bankensektor und dem Zinsniveau weiterhin zur Debatte steht, lässt sich nicht abstreiten, dass der Rückgang der Nettozinsspannen in den letzten Jahren mit einem Zeitraum niedriger oder negativer Zinsen auf dem Kontinent zusammenfiel.
Die EZB hat mittlerweile erkannt, dass ihre äußerst expansive Geldpolitik auch ungewollte Folgen hat, und sie hat unlängst versucht, diese durch einen „gestaffelten“ Einlagenzins auszugleichen, mit dem negative Zinsen nur auf einen Teil der Bankreserven anfallen. Damit lassen sich zwar die Auswirkungen negativer Zinsen auf die Rentabilität der Banken mindern. Richtig beflügelt wird deren Ausblick damit aber noch nicht. Während die EZB allmählich über immer weniger Handlungsspielraum verfügt, verlagert sich das Augenmerk auf die Frage, ob fiskalpolitische Maßnahmen eventuell den Wachstumsausblick in der Eurozone beleben könnten. Ein beträchtliches Fiskalpaket würde die Wachstumschancen mit Sicherheit verbessern und zyklische Sektoren wie das Bankenwesen beflügeln. Die politischen Entscheidungsträger scheinen sich allmählich in diese Richtung zu bewegen. Allerdings zögern vor allem die nördlichen Mitgliedstaaten noch und etwaige Erwartungen auf eine koordiniertes, breit angelegtes Fiskalpaket für die gesamte Eurozone lassen sich vorerst bestenfalls als „optimistisch“ umschreiben.
Angesichts erheblicher Skepsis über die Rentabilität europäischer Banken konnten die Kurs-Buch-Verhältnisse (KBVs) des Sektors seit der globalen Finanzkrise das Niveau von 1,0 kaum mit Nachdruck durchbrechen. In den USA haben sich unterdessen dank einer schnelleren Rekapitalisierung und eines aggressiveren Underwriting bei problemhaften Aktiva sowie einer geringeren Verwässerung privater Aktionärsbeteiligungen, welche die Gewinne in Europa belasteten, Banken um einiges besser behauptet. Abbildung 5 unterstreicht die Diskrepanz zwischen dem KBV von US- und europäischen Banken, die sich seit der Krise aufgetan hat.
Europäische Finanztitel werden mittlerweile bis zu zwei Standardabweichungen günstiger gehandelt als die Region Europa allgemein (12-Monats-Forward-KGV). Diese Diskrepanz, die zuletzt im Anschluss an die globale Finanzkrise 2009 zu verzeichnen war, deutet an, dass derzeit ein recht pessimistisches Szenario eingepreist wird.
Angesichts des äußerst hohen Konkurrenzdrucks ließe sich der Ausblick wohl am effektivsten mit einer Konsolidierung im gesamten Bankensektor verbessern. Der Europäische Bankenverband unterstreicht, dass die Anzahl der Banken in der Europäischen Union seit 2009 um über 2.000 zurückgegangen ist. Damit sind jedoch immer noch mehr als 6.000 Institute am Markt, die sich gegenseitig das Geschäft streitig machen. Spanien, Skandinavien und die Benelux-Länder zählen in Sachen Konsolidierung zu den Erfolgsgeschichten. Aber unterschiedliche Geschäftsgebarung in den jeweiligen Ländern Europas und die fehlende Vereinheitlichung der europäischen Rechts- und Steuersysteme machen länderübergreifende Fusionen besonders schwierig. Die frustrierend langsamen Fortschritte hin zu einer Europäischen Kapitalmarktunion sind ein weiteres Hindernis für eine stärkere länderübergreifende Zusammenarbeit in Europa. Stattdessen erklären erhebliche Konsolidierungsschübe in Subsektoren des Finanzsektors, vor allem bei Versicherern, weshalb diese in den letzten Jahren starke Renditen erzielt haben. Allerdings reichen sie nicht aus, um den gesamten Finanzsektor voranzubringen.
Noch ist nicht alles verloren…
Selbst wenn der Ausblick für den Bankensektor pessimistisch stimmt, besteht für Anleger in Europa Hoffnung. Während Finanztitel in europäischen Indizes weiterhin einen hohen Stellenwert einnehmen, sind die Sektorgewichtungen in den letzten Jahren ausgewogener geworden, vor allem innerhalb der konzentrierten Mega/Large-Cap-Indizes wie dem Euro Stoxx 50, wo sich der Anteil der Banken seit 2008 halbiert hat.
Europäische Aktien werden gegenüber dem US-Markt seit Mitte der 1990er Jahre zu einem durchschnittlichen Abschlag von rund 10 % gehandelt. Angesichts eines Abschlags von knapp über 15 % fällt die Unterbewertung des europäischen Marktes als Ganzes gegenüber den USA nicht extrem aus. Allerdings sollte dieser Sachverhalt im Auge behalten werden. Daten zu den Mittelflüssen zeigen, dass sich die Anleger in den letzten Jahren von diesem Markt ferngehalten haben, und seit Anfang 2018 waren bei europäischen Aktienfonds markante Mittelabflüsse zu verzeichnen. Während die politischen Schlagzeilen die Anlegerstimmung belasteten, gibt es jedoch für aufmerksame Beobachter viele branchenführende Unternehmen zu entdecken, die häufig kaum gegenüber der Binnenwirtschaft ihres jeweiligen Landes exponiert sind.
Darüber hinaus weisen die europäischen Indizes eine wesentlich stärkere Verbindung zum globalen Wachstum auf. Sollte es also zu Anzeichen einer Stabilisierung der Konjunktur kommen, dann würden europäische Unternehmen unverhältnismäßig stark profitieren. Schließlich spielen für Anleger außerhalb von Europa die Auswirkungen von Wechselkursbewegungen eine Rolle. Europäische Aktien lohnen sich unter Umständen vor allem für US-Anleger mit langfristigem Anlagehorizont, zumal der US-Dollar im Vergleich zum geschätzten langfristigen Marktwert aktuell relativ hoch bewertet ist.
Schlussfolgerung
Anleger, die auf eine Wende am europäischen Gesamtmarkt hoffen, sollten ihr Augenmerk vor allem auf die Entwicklung von europäischen Finanztiteln im Verhältnis zu US-Technologiewerten legen.
Die Bewertungen der europäischen Finanztitel spiegeln bereits ein sehr pessimistisches Szenario wider. Allerdings lassen sich kurzfristig auch kaum Auslöser für eine deutliche Neubewertung ausmachen. Unterdessen ist ein Großteil der Outperformance von US-Technologiewerten auf starke Gewinne zurückzuführen. Um ihre Bewertungen weiterhin rechtfertigen zu können, müssen diese Unternehmen künftig ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, ein besseres Gewinnwachstum als am breiteren Markt zu erwirtschaften, und das zu einer Zeit, in der Änderungen der US-Steuergesetze für US-Aktien ein Risiko darstellen könnten.
In Europa besteht dagegen die Gefahr, dass das Potenzial von branchenführenden Unternehmen von den Anlegern nicht erkannt wird, die derzeit dem Markt als Ganzes den Rücken kehren. In Ermangelung einer deutlichen Erholung der Wachstumsdynamik in Europa könnten die Anleger hier einen selektiven Ansatz vorziehen. Dazu gehört ein Schwerpunkt auf „Qualität“ – d. h. Unternehmen mit starken Bilanzen, stabilen Erträgen und robusten Kapitalrenditen – da sich diese Titel in Zeiten eines unter dem Trend liegenden Wirtschaftswachstums in der Regel besser behaupten.