Das Niedrigzinsumfeld schafft für viele Anleger, die Erträge aus ihren Ersparnissen benötigen, einen inzwischen nur allzu bekannten Konflikt.
Michael Bell & Maria Paola Toschi
Niedrige Zinsen und die quantitative Lockerung haben die für Anleger verfügbaren Erträge aus Barmitteln und Staatsanleihen verringert. Nachdem sowohl die USNotenbank (Federal Reserve, Fed) als auch die Europäische Zentralbank zuletzt aufgrund der nach wie vor gedämpften Inflation und der Verlangsamung des Wachstums auf eine gemäßigtere Haltung umgeschwenkt sind, dürften die Zinsen auch weiterhin niedrig bleiben. Im Vereinigten Königreich könnte die Bank of England selbst bei einer Verminderung der mit dem Brexit verbundenen Unsicherheit ihre Zinsen vermutlich nur sehr allmählich anheben.
Abbildung 1: Annualisierte Erträge einer Bankeinlage von 100.000 EUR über 3 Monate EUR
In EUR (links); Veränderung zum Vorjahr in % (rechts)
Quelle: Bloomberg, Eurostat, J.P. Morgan Asset Management. Bei der Inflation handelt es sich um die prozentuale Veränderung des harmonisierten Verbraucherpreisindex der Eurozone gegenüber dem Vorjahr. Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Guide to the Markets – Europe. Daten zum 31. März 2019.
Dieses Niedrigzinsumfeld schafft für viele Anleger, die Erträge aus ihren Ersparnissen benötigen, ein inzwischen nur allzu bekanntes Dilemma. Entweder müssen sie hinnehmen, dass ihre Einnahmen sehr viel niedriger ausfallen als in der Zeit vor der globalen Finanzkrise, als die Zinsen noch höher waren, oder sie müssen ein größeres Risiko in Kauf nehmen, um mit ihren Anlagen höhere Erträge zu erzielen. Dieser "Konflikt" verschärft sich, je mehr wir uns dem Ende dieses Konjunkturzyklus nähern, da das zunehmende Rezessionsrisiko das Potenzial für sinkende Kurse bei Aktien und Unternehmensanleihen erhöht.
Leider lässt sich der Kompromiss zwischen Risiko und Ertrag nicht vermeiden. Was also kann ein Anleger tun, der Erträge benötigt? Das mit höherrentierlichen Anlagen verbundene Risiko lässt sich zwar nicht vollständig ausräumen, es kann jedoch auf dreierlei Weise vermindert werden.
1. Denken Sie in Jahrzehnten, nicht in Tagen
Die erste Möglichkeit zur Reduzierung des Risikos besteht darin, einen längeren Anlagezeitraum zu wählen. Wenn Sie akzeptieren, dass die genauen Zeitpunkte der Höchst- und Tiefststände eines Marktzyklus zwar schwer kalkulierbar sind, die Weltwirtschaft und die Gewinne von Unternehmen langfristig jedoch weiter anwachsen dürften, dann können riskantere Anlagen als langfristige Positionen Sinn machen – selbst gegen Ende eines Konjunkturzyklus. Kurz gesagt: Wenn Sie Ihre Investments tätigen, langfristig halten und deren Wertschwankungen ignorieren können, solange Sie weiterhin Erträge erhalten, können Sie ein etwas größeres Risiko eingehen und höhere Erträge erzielen.
Abbildung 2: Ertragsrendite und Spanne der Renditen verschiedener Anlageklassen
Rollierende Zwölf-Monats-Rendite seit 1999 in Prozent (links); % Rendite (rechts)
Quelle: BAML, Bloomberg Barclays, MSCI, Refinitiv Datastream, J.P. Morgan Asset Management. Staatsanleihen EU: Bloomberg Barclays Euro Agg. Government; IG EU: Bloomberg Barclays Euro Agg. – Corporate; HY EU: BofA/Merrill Lynch Euro Non-Financial High Yield Constrained. Bei den Renditen festverzinslicher Titel handelt es sich um Rückzahlungsrenditen. Bei der Rendite des MSCI Europe handelt es sich um die Dividendenrendite. Die Renditen beruhen auf der in Lokalwährung gemessenen Gesamtrendite. Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Daten zum 31. März 2019.
2. Gehen Sie selektiv vor
Wenn Sie einen langfristigen Anlageansatz verfolgen können, besteht die zweite Überlegung darin, sich auf die Nachhaltigkeit der erzielten Erträge zu konzentrieren. Manche Unternehmen zahlen vielleicht eine hohe Dividende, müssen ihre Ausschüttungen jedoch kürzen, wenn die Gewinne bei einem Abschwung zurückgehen. Ganz ähnlich bieten ihnen bestimmte Unternehmen womöglich hohe Erträge dafür, dass Sie ihnen Geld leihen – möglicherweise sind sie jedoch nicht in der Lage, Ihnen das Kapital zurückzuzahlen, wenn ihre Gewinne einbrechen. In diese letzte Kategorie könnten sogar bestimmte Staatsanleihen fallen – oder zumindest könnten sie sich schwertun, Ihr Kapital in einer Währung zurückzuzahlen, die real einen entsprechenden Wert hat.
Bei Aktien ist es wichtig, neben der Rendite auch die Dividendendeckungsquote sowie die Nachhaltigkeit und Zyklizität der Unternehmensgewinne zu berücksichtigen. Zur Ermittlung der Dividendendeckungsquote wird der Unternehmensgewinn durch die Dividendenausschüttung geteilt. Bei einem Unternehmen mit einer hohen Dividendendeckungsquote ist es weniger wahrscheinlich, dass es bei rückläufigen Gewinnen seine Dividende kürzen muss. Unternehmen kürzen ihre Dividende in der Regel nur ungern. Ist ihre Ausschüttungsquote (die Umkehrung der Dividendendeckungsquote) jedoch niedrig, können sie den Anteil ihres Gewinns, den sie zur Finanzierung der Dividende verwenden, erhöhen, um so eine Kürzung zu vermeiden. Unternehmen mit einer höheren Ausschüttungsquote haben in dieser Hinsicht weniger Flexibilität.
Abbildung 3: Gewinne und Dividenden je Aktie im MSCI Europe
Indexniveau, im Jan. 1995 auf 100 umbasiert
Quelle: Bloomberg, MSCI, Refinitiv Datastream J.P. Morgan Asset Management. Die Gewinne und Dividenden je Aktie beruhen auf den vergangenen zwölf Monaten. Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Daten zum 31. März 2019.
Darüber hinaus ist es wichtig, die Nachhaltigkeit und die Zyklizität der Unternehmensgewinne zu berücksichtigen: Auch ein Unternehmen mit einer hohen Dividendendeckungsquote wird mit höherer Wahrscheinlichkeit seine Dividende verringern müssen, wenn sein Gewinn sehr viel stärker zurückgeht als der eines Unternehmens mit einer geringeren Dividendendeckung. Bei einem Mineralwasserunternehmen ist ein starker Einbruch der Gewinne während einer Rezession beispielsweise sehr viel weniger wahrscheinlich als bei einer Restaurantkette. Ebenso wäre man früher davon ausgegangen, dass ein DVDVerleih von einer Rezession profitieren würde, da die Menschen weniger oft zum Essen ausgehen und stattdessen zu Hause bleiben, um einen Film zu sehen. Angesichts der Verlagerung hin zu On-line-Video-Streaming-Diensten haben sich die Gewinne in dieser Branche jedoch langfristig als nicht tragbar erwiesen.
Derselbe Grundsatz gilt, wenn man sein Geld an Unternehmen verleiht, indem man ihre Schuldtitel kauft. In diesem Fall müssen Anleger die jeweiligen Zinsdeckungsquoten berücksichtigen. Bei dieser Kennzahl wird der Gewinn nicht durch die Dividendenausschüttung, sondern durch die Zinszahlungen geteilt. Bei der Bestimmung, ob ein Unternehmen seinen Zahlungsverpflichtungen auch in einer Rezession nachkommen wird, sind einmal mehr die Nachhaltigkeit und die Zyklizität der Gewinne von zentraler Bedeutung. Da Zinszahlungen vorgenommen werden müssen, bevor ein Unternehmen eine Dividende ausschütten kann, und die Inhaber von Schuldtiteln im Fall eines Konkurses in der Regel einen Anspruch auf das verbleibende Vermögen eines Unternehmens haben, sind die Anleihen eines Unternehmens weniger riskant als seine Aktien. Allerdings ist es nicht unbedingt weniger riskant, Geld an ein hoch verschuldetes Unternehmen mit zyklischen Gewinnen zu verleihen, als in die Aktien eines Unternehmens mit geringen Schulden und stabilen Erträgen zu investieren.
Für Anleger, die mit ihren Ersparnissen Erträge generieren müssen, einen langfristigen Anlageansatz verfolgen können und der Versuchung widerstehen, ihre Anlagen bei einem Abschwung zu verkaufen, kommt es also darauf an, Schuldtitel und Aktien derjenigen Unternehmen zu kaufen, die auch in einer Rezession in der Lage sein werden, weiterhin Dividenden auszuschütten und Zinszahlungen zu leisten. Vor allem gilt es zu beachten, nicht nur die Schuldtitel und Aktien der Unternehmen mit der höchsten Rendite auszuwählen. Stattdessen muss eine umsichtige Auswahl derjenigen Unternehmen getroffen werden, die nicht nur eine hohe Rendite bieten, sondern diese auch dauerhaft zahlen können.
Die aktive Auswahl der Unternehmen mit der höchsten Rendite, die auch in einer Rezession in der Lage sein werden, Ihnen Erträge zu bieten, ist eine Aufgabe für Fachleute, die über die Zeit und die Fachkompetenz verfügen, um Bilanzen zu analysieren, sich mit Vertretern der Unternehmensleitung zu treffen und die kurz- und langfristigen Risiken, denen die Gewinne ausgesetzt sind, zu beurteilen. Auch Experten können versehentlich ein Unternehmen auswählen, das seine Dividende senken muss oder seinen Zinszahlungen nicht nachkommen kann. Aber durch eine Diversifizierung über viele entsprechend vorsichtig ausgewählte Aktien und Anleihen hinweg sollten sie in der Lage sein, das Risiko, dass ein gelegentlicher Fehlgriff erhebliche Auswirkungen auf das Gesamtportfolio hat, zu reduzieren.
3. Erweitern Sie Ihren Horizont
Anleger, die sowohl ihre Rendite als auch ihre Diversifizierung maximieren möchten und dabei selektiv vorgehen wollen, so dass sie nur Wertpapiere von Emittenten auswählen, die ihnen zuverlässig Erträge zahlen können, sollten ein möglichst breites Spektrum an Chancen in Betracht ziehen. Ein globaler Ansatz erlaubt es dem Portfoliomanager, die zuverlässigsten Ertragszahler weltweit auszuwählen. Ein anlagenübergreifender Ansatz hilft außerdem, das Chancenspektrum auf eine breitere Palette ertragbringender Anlagen auszuweiten. Anleger sollten die möglichen Erträge unterschiedlichster Vermögenswerte aus aller Welt in Erwägung ziehen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Absicherungskosten zur Verminderung des Währungsrisikos.
Abbildung 4: Renditen verschiedener Anlageklassen
% Rendite
Quelle: Bloomberg Barclays, BAML, FTSE, MSCI, ODCE, Refinitiv Datasream, Standard & Poor’s, J.P. Morgan Asset Management. HY USA: BofA/Merrill Lynch US High Yield Constrained; EMD (USD-Staatsanleihen): J.P. Morgan EMBI Global; Globale Infrastruktur: MSCI Global Infrastructure Asset Index-Low Risk; Immobilien Europa: IPD Global Property Fund Index – Continental Europe; Immobilien GB: IPD Global Property Fund Index – UK; Immobilien USA: NCREIF-ODCE Index; HY EU: BofA/Merrill Lynch Euro Non-Financial High Yield Constrained; IG USA: BofA/ Merrill Lynch US High Yield Constrained; IG GB: Bloomberg Barclays Sterling Agg. – Corporate; IG EU: Bloomberg Barclays Euro Agg. – Corporate. Zehnjährige Renditen sind Renditen auf Staatsanleihen. Aktienindexrenditen sind Dividendenrenditen. Graue Balken zeigen Renditen auf der Basis von Lokalwährungen. Blaue Balken zeigen Renditen auf der Basis von Lokalwährungen zuzüglich der positiven Auswirkungen bzw. Kosten einer Absicherung des Lokalwährungsrisikos gegenüber dem EUR. Die Absicherungskosten sind annualisiert und beruhen auf dreimonatigen Devisenterminkontrakten. Bei den Absicherungskosten für globale Infrastruktur und MSCI EM wird der USD als Lokalwährung angenommen. Letztverfügbare Daten zum 31. März 2019.
Die Ausfallraten unter hochverzinslichen Unternehmensanleihen sind derzeit niedrig, und die Anlageklasse bietet durchaus Chancen für selektive, langfristig orientierte Anleger. Schuldtitel aus Schwellenländern bieten ebenfalls viele verschiedene Anlagechancen mit unterschiedlichen Risiko-Ertragsprofilen. Auf Lokalwährungen lautende Staatsanleihen bestimmter Schwellenländer bieten beispielsweise hohe Realrenditen im Vergleich zu Staatsanleihen aus Industrieländern, wo die Realrenditen teils negativ ausfallen. Nachdem die US-Notenbank auf eine gemäßigtere Haltung umgeschwenkt ist, könnte sich für Zentralbanken aus Schwellenländern zudem die Möglichkeit bieten, ihre Geldpolitik zu lockern. Neben attraktiven Gelegenheiten bei Schuldtiteln können die Schwellenländer auch im Bereich der Aktien interessante Ertragschancen bieten. Viele Unternehmen aus Schwellenländern konzentrieren sich im Vergleich zur Vergangenheit inzwischen stärker auf Corporate Governance und schütten liquide Mittel an ihre Aktionäre aus. Abgesehen von hochverzinslichen Anleihen und den Renten- und Aktienmärkten der Schwellenländer sollten Anleger auch die konstanten und relativ defensiven Ertragsströme in Erwägung ziehen, die von Immobilien- und Infrastrukturanlagen geboten werden.
Schlussfolgerung
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass man nicht umhinkommt, ein etwas größeres Risiko einzugehen, um höhere Erträge als diejenigen zu erzielen, die für Barmittel und Staatsanleihen geboten werden. Durch eine Erweiterung des Anlagehorizonts, eine globale Ausrichtung, eine aktive Auswahl verlässlicher Ertragszahler und eine Diversifizierung über verschiedene Unternehmen und Anlageklassen hinweg lassen sich die hiermit verbundenen Risiken jedoch vermindern und die Erträge Ihrer Ersparnisse steigern.