Die politische Unterstützung sollte die Nachfrage ankurbeln und Aufwärtsrisiken für die Gewinnschätzungen von Unternehmen schaffen, die mit dem sich entwickelnden Energiemix verbunden sind.

Die Dynamik der Energiewende in Europa hat sich grundlegend geändert. Netto-Null-Ziele waren eigentlich für das Jahr 2050 vorgesehen, aus der aktuellen Sicht der politischen Entscheidungstragenden verlangt allerdings die Priorisierung von Energiesicherheit angesichts des russischen Einmarsches in die Ukraine im Rahmen eine gründliche Umstellung des Energiemixes, die jetzt innerhalb von Jahren erfolgen muss und nicht innerhalb von Jahrzehnten.

Energiekrise abgewendet – vorerst

Die im letzten Jahr erzielten Fortschritte bei der Diversifizierung der Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen wurden schneller erreicht, als viele für möglich gehalten hatten. Im vergangenen Frühjahr sah sich die Europäische Union mit einer erheblichen Herausforderung konfrontiert: Gerade waren 40% ihrer Erdgasliefermenge weggebrochen, die ehemals aus Russland bezogen wurde, während gleichzeitig die Erdgaslagerbestände nach einem harten Winter deutlich unter das übliche Niveau gesunken waren.

Springen wir in die Gegenwart. Die Bestände sind jetzt so robust wir zuletzt vor 10 Jahren und die Spot-Preise von Erdgas sind von den letzten Spitzenständen um mehr als 80% gesunken. Da jetzt deutlich weniger Aufwand betrieben werden muss, um die Gasspeicher vor dem nächsten Winter zu füllen, haben auch die Preise von Futures für den Winter 2023 deutlich nachgegeben, denn die Märkte preisen die Gefahr größerer Versorgungsprobleme im späteren Jahresverlauf aus.

Ein genauerer Blick auf die Treiber, die hinter der erfolgreichen Handhabung dieser Umkehr durch die EU stehen, verdeutlicht, warum die bisher verwendeten Lösungen keine dauerhafte Basis bilden dürften. Den Daten der Internationalen Energieagentur zufolge ist die Nachfrage der Industrie nach Erdgas im Jahr 2022 um rund 25 Milliarden Kubikmeter gefallen – das entspricht einem Rückgang um 25% im Verhältnis zum Vorjahr. Davon sollen aber nur schätzungsweise 3 Milliarden Kubikmeter auf Effizienzsteigerungen zurückzuführen sein, während die übrige Menge aus Produktionskürzungen und einen Wechsel von Gas zu Öl entfällt. Im Immobiliensektor bietet sich ein ähnliches Bild, wo über die Hälfte der 28 Milliarden Kubikmeter des Nachfragerückgangs eine Folge des saisonuntypisch warmen Wetters waren und der Rest durch eine Kombination aus gesteigerter Effizienz, eine Umstellung auf andere Brennstoffe und Verhaltensänderungen begründet wird.

Auf der Suche nach einer mittelfristigen Lösung

Die politischen Entscheidungstragenden können sich offenkundig nicht auf eine unendliche Serie warmer Winter verlassen. Und auch fortlaufende Produktionskürzungen der Industrie können nicht in ihrem Interesse sein. Wenn jedoch die Nachfrage nach Erdgas wieder Fahrt aufnimmt, wird es schwierig werden, angebotsseitig Schritt zu halten. Eine deutliche Steigerung der Importe von Flüssiggas (LNG) aus den USA und dem Nahen Osten waren eine entscheidende Stütze beim Schließen der Lücke, die das Wegfallen des russischen Gases 2022 gerissen hatte. Da 2023 mit der wirtschaftlichen Wiedereröffnung in China voraussichtlich eine Rückkehr der dortigen Nachfrage einhergehen wird, dürfte die Lage an den LNG-Märkten angespannter werden. 

Politische Entscheidende suchen deshalb schwerpunktmäßig nach einer mittelfristigen Lösung für die Energieprobleme in Europa. Ihre Antwort hängt vor allem von drei Faktoren ab:

  1. Ein beschleunigter Gebrauch der Generierung sauberer Energie

  2. Zunehmende Elektrifizierung der Wirtschaft

  3. Effizienzsteigerung zur Begrenzung jeder Zunahme der Stromnachfrage

Dazu müssen erhebliche Änderungen vorgenommen werden. 2022 wurde Erdgas im Hinblick auf den Anteil an der Stromerzeugung in der EU erstmals von Wind- und Solarenergie überholt, was die Zunahme der Kohlefeuerung zum Füllen der Lücke in der Energieversorgung begrenzte. Auf längere Sicht kommen aber Schätzungen aus unterschiedlichen Quellen zu dem Schluss, dass der Anteil von Wind- und Solarenergie an der Stromerzeugung bis 2035 auf über 75% – verglichen mit einem Anteil von 22% heute – steigen muss, wenn Netto-Null-Ziele erreichbar bleiben sollen.

Die gute Nachricht ist, dass es zunehmend Anzeichen für einen Wechsel in der Dynamik gibt. Auf Mikroebene haben europäische Haushalte im Jahr 2022 eine Solarstromkapazität von 25 Gigawatt installiert1 , fast 50% mehr als 2021 und genug, um mehr als 7 Millionen europäische Haushalte mit Strom zu versorgen. Derweil hat der RePowerEU-Plan im letzten Jahr zum Erreichen eines Wachstums des Absatzes bei Wärmepumpen von fast 40% beigetragen2 , als Schritt in Richtung des Ziels, bis 2026 in der gesamten Union 20 Millionen Wärmepumpen zu installieren. Der Verkauf von Elektrofahrzeugen ist ein weiteres stark wachsendes Feld. Die Marktdurchdringung mit Elektrofahrzeugen soll Erwartungen zufolge nach 2023 über die Marke von 20% steigen3 , und der Europäische Rat hat sich darauf geeinigt, dass bis 2035 alle neu registrierten Pkw und Transporter in Europa emissionsfrei sein sollen.

Bei einer Top-down-Betrachtung werden Europas Klimaziele auch zunehmend von der Politik unterstützt. Die Prognosen für den Ausbau der erneuerbaren Energien waren bereits nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine sprunghaft angestiegen, und die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich nun auf neue Ziele geeinigt, wonach bis 2030 42,5% der Energie aus erneuerbaren Quellen stammen sollen, was mehr als 10 Prozentpunkte über dem bisherigen Ziel liegt.

Der Green Deal-Industrieplan (GDIP) ist der nächste Schritt auf dem Weg zum Erreichen dieser Ziele, wobei Europa über 1% des BIP für Klimaschutzsubventionen bereitstellen will. Ein besonders erwähnenswertes Element des GDIP ist neben der Aufstockung der Mittel die Vereinfachung der Genehmigungen neuer Solarund Windkraftprojekte. Schnellere Genehmigungen sind unverzichtbar für den geplanten Ausbau der Kapazitäten für saubere Energieerzeugung, und das Ziel, die Genehmigungsverfahren je nach Umfang des Projekts auf maximal 18 Monate zu begrenzen4 , dürfte eine wesentliche Verbesserung gegenüber der heutigen Situation darstellen

Auswirkungen auf die Anlagestrategie

Bei Betrachtung unter Investitionsgesichtspunkten dürfte die gesteigerte Dynamik sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene die Nachfrage anheizen, was die Gewinnprognosen zahlreicher europäischer Unternehmen, die in einer Verbindung zur Weiterentwicklung des Energiemixes stehen, nach oben hin unsicher macht. Die Akteurinnen und Akteure im Bereich erneuerbarer Energien mögen die offensichtlichsten Nutznießenden sein, die zunehmende Elektrifizierung wird sich aber auch auf viele andere Unternehmen auswirken, die einen Teil der erforderlichen Infrastruktur für die Handhabung eines stark erweiterten Strom-Ökosystems sind. Unterscheidungsvermögen wird dennoch weiterhin gebraucht, um die Unternehmen zu identifizieren, die unzureichend auf die bevorstehende Energiewende vorbereitet sind. Dies wird ebenso wichtig sein wie die Identifizierung der Profiteurinnen und Profiteure.

„Wegbereiter“ im Bereich Energieeffizienz – von denen sich viele in den Industriesektoren finden – bilden einen weiteren Bereich, in dem wir erhebliche Verbesserungen der Gewinnaussichten erwarten. In der Vergangenheit haben sich die Gewinne von in diesem Bereich engagierten Unternehmen häufig parallel zum BIP entwickelt. Angesichts der anziehenden Nachfrage scheint nun ein mittleres einstelliges Gewinnwachstum möglich zu sein. Anlageneigentümerinnen und -eigentümer sowie Anlagenbetreiberinnen und -betreiber erhalten nicht nur durch höhere Energierechnungen starke finanzielle Anreize zur Steigerung der Effizienz. Sie stehen auch unter zunehmendem Druck, ihre Emissionen zu senken, und zwar sowohl durch die Regulierungsbehörden als auch durch interne Ziele, die zunehmend den Schwerpunkt auf Anreize zur Dekarbonisierung setzen.

Fazit

Die erste Phase der Reaktion Europas auf die Energiekrise war letztendlich erfolgreich. Eine unmittelbare Krise in der Gasversorgung wurde vermieden und die Lage der Region scheint im Vorfeld des Winters 2023/2024 sicherer zu werden. Die zweite Phase – eine dauerhafte Umstellung des Energiemixes in Europas – läuft bereits. Es stehen noch viele Herausforderungen bevor, europäische Investorinnen und Investoren sollten aber tunlichst zur Kenntnis nehmen, dass die Energiewende nicht erst in Zukunft zum Thema wird – sie findet schon heute statt.

1 Ember Climate European Electricity Review 2023.
2 Monschauer, Y., Delmastro, C., Martinez-Gordon, R. (31. März 2023): „Global Heat Pump Sales Continue Double-Digit Growth“, Kommentar der Internationalen Energieagentur.
3 Citi State of Global Electric Vehicle Adoption.
4 Für Projekte mit geringerer Kapazität gelten kleiner Grenzwerte von 9 oder 12 Monaten.
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