Steigendes Einkommen und technologischer Fortschritt in den Schwellenländern ermöglichen interessante Investitionsmöglichkeiten für Anleger mit einem langfristigeren Anlagehorizont.
Karen Ward
Bei den Schwellenländeraktien ging es in den letzten Jahren turbulent zu. Dies ist nicht ungewöhnlich für ein Segment des globalen Aktienmarktes, das von Natur aus volatil ist. Anleger mit einem längerfristigen Anlagehorizont sollten sich jedoch nicht abschrecken lassen. Im Zuge der zunehmenden Verlagerung des Wachstumsmotors der Wirtschaft nach Osten und nach Süden und einer parallelen Entwicklung der Kapitalmärkte wäre davon auszugehen, dass die Märkte der Schwellenländer über den Industrieländern liegende Renditen liefern.
Der globale Wachstumsmotor verschiebt sich
Angesichts des nachlassenden Bevölkerungswachstums und der rückläufigen Produktivität in den Industrieländern könnte man leicht annehmen, dass die Aussichten für das globale Wachstum und die Marktrenditen trübe sind. Bei genauerer Betrachtung der kontinuierlichen Veränderungen in den Schwellenländern bietet sich jedoch eine alternative Interpretation der Zukunftsaussichten an. Die Schwellenländer tragen heutzutage einen erheblichen Teil zum globalen Wachstum bei (Abbildung 1).
Abbildung 1: Beitrag zum jährlichen Wachstum des globalen realen Bruttoinlandsprodukts (BIP)
Prozentpunkte
Quelle: Refinitiv Datastream, Weltbank, J. P. Morgan Asset Management. Stand: 28. Februar 2019.
Das stärkere Wachstum in den Schwellenländern ist nicht darauf zurückzuführen, dass die Bevölkerungen dort viel schneller wachsen. Manche asiatischen Länder haben mit den gleichen demografischen Herausforderungen zu kämpfen wie die Industrieländer. Vielmehr weisen sie ein Wachstum auf, weil sie zunehmend die Technologien der Industrieländer übernehmen und ihre Einkommen daher in einer wirtschaftlichen Aufholjagd zu den Niveaus in den weiter entwickelten Ländern aufschließen.
Abbildung 2 verwendet zwei Kennzahlen – das Pro-Kopf-Einkommen und den Anteil der Bevölkerung, der im städtischen statt im ländlichen Raum lebt – als Annäherungswerte, um aufzuzeigen, wie sehr verschiedene Schwellenländer bereits aufgeholt haben. Die Größe des Kreises entspricht dem Umfang der Bevölkerung. Die bevölkerungsreichen Länder China und Indien befinden sich anhand dieser Kennzahlen weiterhin in einem sehr niedrigen Entwicklungsstadium.
Abbildung 2: Urbanisierung, reales BIP pro Kopf und Bevölkerungsvolumen
Das BIP pro Kopf ist in konstanten USD angegeben, die Urbanisierungsrate in % und die Größe des Kreises entspricht der Bevölkerung.
Quelle: Weltbank, J.P. Morgan Asset Management. Die Urbanisierungsrate bezieht sich auf den Anteil der Gesamtbevölkerung, der in einem städtischen Raum gemäß der Definition der nationalen Statistikämter lebt. Stand: 28. Februar 2019.
Nicht alle Schwellenländer sind gleich
Dies bedeutet nicht unbedingt, dass alle Ländern mit niedrigen Einkommen aufschließen werden. Erhebliche Teile Afrikas konnten bislang nicht über sehr niedrige Einkommen hinauskommen, und viele Teile Lateinamerikas sind bei einem mittleren Einkommen geblieben.
Wenn Volkswirtschaften zu kämpfen haben, ist dies häufig auf kurzfristige oder auf strukturelle Mängel der Wirtschaftspolitik zurückzuführen. Übermäßige Kreditaufnahmen von Regierungen an den internationalen Kapitalmärkten sind ein kurzfristiger Fehler, der oft zu Kapitalabflüssen, Währungsabwertungen und einer Schrumpfung der Wirtschaft führt. Die Erfahrungen der Türkei und Argentiniens aus dem Jahr 2018 sind hierfür Paradebeispiele.
Die längerfristigen Wachstumsaussichten basieren dagegen auf tiefergreifenden strukturellen Faktoren, zum Beispiel ob der rechtliche Rahmen Investitionen fördert oder abschreckt, oder ob die Bildungssysteme die Arbeiter ausreichend darauf vorbereiten, sich auf neue Technologien einzustellen. Der von der Weltbank aufgestellte Humankapital-Index bietet Anhaltspunkte in Bezug auf letztere Frage. China liegt mittlerweile in Bezug auf diese Kennzahl nicht weit hinter den Standards der Industrieländer, und dennoch beträgt das Realeinkommen pro Kopf nur 14 % der Vergleichszahl aus den USA (siehe Abbildungen 3 und 4).
Abbildung 3: Humankapital-index
Indexstand (0-1)
Quelle: Weltbank, J.P. Morgan Asset Management. Der Humankapital-Index misst das Humankapital, das ein Kind, das heute geboren wird, unter Berücksichtigung der Risiken einer schlechten Gesundheitsversorgung und einer schlechten Bildung voraussichtlich bis zu seinem 18. Lebensjahr erreichen wird. Stand: 28. Februar 2019.
Wenn die politischen Entscheidungsträger die richtige strukturelle Grundlage bieten, kann eine Volkswirtschaft recht schnell aufholen. Das Paradebeispiel hierfür war vielleicht Japan in den 1960er und 1970er Jahren. Ein schnelles Wachstum kann jedoch nicht ewig anhalten. Der Markt ging irrtümlich von einem anhaltend schnellen Wachstum aus, so dass sich bei den japanischen Aktienkursen und Immobilienpreisen eine Blase bildete. Als das japanische Pro- Kopf-Einkommen Anfang der 1990er Jahre mit den USA aufholte, ließ das Wachstum aber abrupt nach. Nachdem die japanische Aktien- und Immobilienmarktblase anschließend platzte, waren die Folgen jahrzehntelang zu spüren. Das Pro- Kopf-Einkommen ist seitdem jedoch ungefähr entsprechend dem der USA gestiegen (siehe Abbildung 4).
Abbildung 4: Realeinkommen pro Kopf im Vergleich zu den USA
% des Realeinkommens pro Kopf in den USA in konstanten USD
Quelle: Weltbank, J.P. Morgan Asset Management. Stand: 28. Februar 2019.
Mit steigendem Einkommen ändert sich das Konsumverhalten
Wenn sich Volkswirtschaften entwickeln und die Arbeiter in weiter entwickelte Branchen übergehen, steigt das Pro-Kopf- Einkommen, und dies führt wiederum zu einer Änderung des Konsumverhaltens. Bei niedrigen Einkommen müssen die Haushalte einen erheblichen Teil ihrer Einkommen für grundlegende Güter und Dienstleistungen und insbesondere für Lebensmittel aufwenden. Die ländliche Bevölkerung Indiens wendet 55 % ihres gesamten Einkommens für Lebensmittel auf, im Vergleich zu 13 % in den USA (siehe Abbildung 5). Bei zunehmenden Einkommen steigen die Ausgaben für Freizeitgüter und -leistungen sowie Reisen und Telekommunikation. Die Leute haben kurz gesagt mehr Geld, um sich zu amüsieren.
Abbildung 5: Gewichtungen der Kategorien im Verbraucherpreisindex
Gewichtung im Verbraucherpreisindex in %
Quelle: nationale Statistikbüros, J.P. Morgan Asset Management. Stand: 28. Februar 2019.
Aufkommende Mittelschichten und eine Verlagerung der Verbraucherpräferenzen bieten neue Anlagegelegenheiten. Schwellenländeranlagen beziehen sich schon lange nicht mehr nur auf Industriewerte und Rohstoffe. Inzwischen geht es viel stärker um die Nachfrage der jüngeren Generation (der sog. „Millennials“) und den wachsenden Onlinehandel sowie die zunehmende Nachfrage nach Gesundheitsversorgung und Finanzdienstleistungen, die mit einem zunehmenden Wohlstand einhergeht.
Diese Verlagerung hin zum Konsum in den Schwellenländern ist auch gut für die Weltwirtschaft, da die Verbraucher in den USA nicht mehr in der Lage sind, das globale Angebot abzunehmen. Die Verbraucher in den Schwellenländern und die Nachfrage, die diese erzeugen, könnten den Industrieländern dabei helfen, die Herausforderungen alternder Bevölkerungen und hoher Staatsschulden zu bewältigen. Um von diesen Vorteilen zu profitieren, müssen die Entscheidungsträger in den Industrieländern den aktuellen Verlockungen von Populismus und Nationalismus widerstehen.
Und was ist mit den chinesischen Schulden?
Nicht alle Anleger sind davon überzeugt, dass sich der globale Wachstumsmotor nachhaltig verlagert. Das schnelle Wachstum in China in den letzten Jahrzehnten beunruhigt diejenigen, die mit Japan oder während der allgemeinen Krise in Asien gegen Ende der 1990er Jahre schlechte Erfahrungen gemacht haben. Die Tatsache, dass die Verschuldung in China erheblich zugenommen hat, schürt ebenfalls erhebliche Bedenken. Die Verschuldung der Haushalte, der Wirtschaft und des Staats ist von 140 % des BIP im Jahr 2007 auf mittlerweile 250 % gestiegen und liegt nunmehr ungefähr auf demselben Niveau wie der Verschuldungsgrad Italiens.
Es bestehen jedoch drei wesentliche Unterschiede zwischen der Situation in China und den Erfahrungen der ersten sog. asiatischen Tiger.
Zunächst einmal wurden die Schulden weitgehend zur Finanzierung staatlicher Ausgaben verwendet. In den offiziellen Statistiken entfällt die zunehmende Verschuldung auf die Privatwirtschaft, die Abgrenzungen zwischen den Sektoren ist in China jedoch bei Weitem nicht so klar. Ein Großteil der zunehmenden Schulden ist in staatseigenen Unternehmen und bei den Kommunalverwaltungen nahestehenden Emittenten angefallen, die offiziell nicht dem öffentlichen Sektor zugerechnet werden.
Zweitens wurden die Schulden aus dem Inland aus chinesischen Sparguthaben finanziert und das chinesische Finanzsystem ist weiterhin weitgehend von den globalen Märkten abgeschottet. Da die Schulden im Inland gehalten werden, sind die chinesischen Darlehensnehmer nicht von internationalen Kapitalflüssen abhängig, was während der asiatischen Krise so schädlich war. Damals griffen Bedenken um die Fähigkeit Thailands zur Tilgung der Schulden des Landes schnell auf die Nachbarländer über, obwohl dies nicht unbedingt gerechtfertigt war.
Drittens wurden die Schulden, wie aus Abbildung 2 hervorgeht, wahrscheinlich zur Finanzierung lohnender Investitionsprojekte verwendet. China befindet sich trotz eines seit über 20 Jahren anhaltenden schnellen Wachstums weiterhin in einem relativ frühen Entwicklungsstadium. Wenn man in Shanghai oder Peking ist, kann man leicht vergessen, dass China nach wie vor ein Schwellenland mit niedrigen Einkommen und mit relativ gutem Wachstumspotenzial im Osten des Landes ist. 16 % der Bevölkerung sind weiterhin in der Landwirtschaft tätig, im Vergleich zu 2 % in den USA. 60 % der Bevölkerung leben in städtischen Gebieten, im Vergleich zu 80 % in den USA. Das Wachstum im Wohnungsbau in China muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Der Bau von Städten ist Teil des langfristigen Entwicklungsplans und wird nicht wie in den USA aufgrund von Krediten mit unzureichender Bonität zum Problem werden. Wenn die Investitionen überwiegend einem produktiven Nutzen dienen, wird China ebenso seinen Schulden entwachsen wie ein Berufsanfänger eine hohe Hypothek nach ein paar Jahren leichter abbezahlen kann.
Und schließlich deuten die Aktienkurse nicht darauf hin, dass die Anleger in Bezug auf die Zukunft der chinesischen Wirtschaft übermäßig optimistisch sind, wie dies bei den asiatischen Tigern am Anfang der Fall war. 1989 erreichte der japanische Aktienmarkt ein Kurs-Buchwertverhältnis von 4,3. Im Gegensatz dazu hat der Index der Börse Shanghai derzeit ein Kurs-Buchwertverhältnis von 1,5.
Schwellenländeranlagen sind langfristige Anlagen
Insgesamt sehen wir jede Menge Spielraum dafür, dass die Volkswirtschaften der Schwellenländer weiter aufholen und zunehmend eine wichtige Rolle für das globale Wachstum spielen werden. Um dieses anhaltende Wachstum zu fördern, müssen sich die globalen Kapitalmärkte weiterentwickeln. Hier ist es erwähnenswert, dass sich das globale Finanzsystem nicht im Gleichschritt zur Weltwirtschaft entwickelt hat. Die Märkte der Schwellenländer machen nunmehr 40 % des globalen nominalen BIP aus, jedoch nur 12 % des MSCI All-Country World Index.
In der Vergangenheit haben die Anleger ihre Beteiligungen am Wachstum der Schwellenländer vielleicht eher über Aktien aus Industrieländern mit erheblichem Engagement in diesen Märkten aufgebaut. Einer der Gründe dafür war, dass die bessere Liquidität dieser Aktien ihre Volatilität reduzierte.
Die Chancen, die sich im Bereich der Schwellenländer bieten, befinden sich jedoch im Wandel. Ein konkretes Beispiel ist der Aufstieg der chinesischen A-Aktien, wo MSCI vor Kurzem eine Erhöhung des Anteils der Unternehmen aus diesem Markt im MSCI EM Index angekündigt hat. Dies wird voraussichtlich zur Erhöhung der Gewichtung des Marktes für A-Aktien im EM-Leitindex von derzeit 0,7 % auf über 3 % bis Ende 2019 führen. Diese Gewichtung ist jedoch nach wie vor weit geringer als das relative Volumen der chinesischen Wirtschaft unter den Schwellenländern und dürfte künftig weiter steigen.
Abbildung 6: Gewichtung von China unter den Märkten der Schwellenländer
Prozentualer Anteil an den Märkten der Schwellenländer
Quelle: MSCI, Weltbank, J.P. Morgan Asset Management. *Der Anteil am BIP der Schwellenländer bezieht sich auf 2017 und wird berechnet als der prozentuale Anteil des chinesischen nominalen BIP in USD an allen Schwellenländern im MSCI EM Index. Die Angaben zu einer Einbeziehung von A-Aktien zu 100 % dient lediglich zu Informationszwecken. Stand: 28. Februar 2019.
Die Schwellenländeraktien werden voraussichtlich ein volatileres Segment des globalen Aktienmarktes bleiben. Anleger mit einer Vorliebe für Anlagen, deren Preise langsam und stetig steigen, wissen für ihre Portfolios die zusätzliche Volatilität die an den Schwellenländermärkten vorherrschen kann, vielleicht nicht zu schätzen. Wenn Anleger jedoch einen langfristigen Anlagehorizont haben und die Volatilität in Kauf nehmen können, dann sollten diese Märkte in den nächsten Jahrzehnten weit höhere Renditen abwerfen als Aktien aus Industrieländern.
Die jährlichen Gesamtrenditen sollten bei Schwellenländeraktien auf der Grundlage unserer langfristigen Kapitalmarktannahmen 2019 in den nächsten zehn Jahren im Durchschnitt voraussichtlich bei nahezu 8 % liegen. Dies vergleicht sich mit 5 % bei Aktien aus Industrieländern.
Für Anleger, die Gelder fest anlegen und die mögliche Volatilität in Kauf nehmen können, können Schwellenländeraktien und insbesondere asiatische Aktien angesichts der derzeitigen Bewertungen sehr wohl eine gute Ergänzung ihrer Portfolios darstellen.