Diese Rezession wird ein sehr guter Test dafür sein, ob einige Technologie- und Online-Geschäftsmodelle wirklich so defensiv sind, wie der Markt derzeit glaubt.
Michael Bell
Vor dem gegenwärtigen Abschwung waren wir der Überzeugung, dass Anleger von einer Diversifizierung ihrer Portfolios mit Staatsanleihen, Makrofonds und Liquiditätsfonds profitieren könnten. Wir waren auch der Auffassung, dass eine Konzentration auf Qualitätswerte und die Vermeidung einer Übergewichtung von Aktien, Mid- und Small-Cap-Werten sowie Wachstumstiteln dazu beitragen würden, die Performance in einem Abschwung zu schützen*. Während die meisten dieser Ideen zwar geholfen haben, übertrafen Wachstumswerte dennoch weiterhin die Substanzwerte.
Wir dachten, dass sich Substanzwerte in einer Rezession besser entwickeln würden als Wachstumswerte, da die Bewertungsaufschläge auf Wachstumswerte im Vergleich zu Substanzwerten Niveaus erreicht hatten, wie sie zuletzt im Jahr 2000 vorkamen. Dies ließ uns zu der Auffassung gelangen, dass Wachstumswerte eine Underperformance aufweisen könnten, wie es auch beim Platzen der Dotcom-Blase Anfang der 2000er Jahre der Fall war, als die Bewertungsaufschläge auf Wachstumswerte gegenüber den Substanzwerten zurückgingen (Abbildung 1).
ABBILDUNG 1: MSCI WORLD – KGV-DISKREPANZ ZWISCHEN WACHSTUMSTITELN UND SUBSTANZWERTEN
MSCI World – Historisches Zwölfmonats-KGV für Wachstum abzüglich Substanz
Quelle: MSCI, Refinitiv Datastream, J.P. Morgan Asset Management. Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Daten zum 30. April 2020.
Tatsächlich ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) bei Wachstumswerten in den beiden letzten Rezessionen im Verhältnis zum KGV bei Substanzwerten gesunken. Während sich die Wachstumswerte während der Baisse Anfang der 2000er Jahre jedoch unterdurchschnittlich entwickelten, wiesen die Substanzwerte in der letzten Rezession eine Underperformance auf. Die Substanzwerte wiesen eine Underperformance auf, da die Gewinne in substanzbasierten Sektoren wie Energie und Finanzen stärker zurückgingen als die Gewinne in Wachstumssektoren wie Technologie und zyklische Konsumgüter, wodurch der Rückgang der KGV von Wachstumswerten im Vergleich zu Substanzwerten ausgeglichen wurde. Die Outperformance der Wachstumswerte in der letzten Rezession stand im Gegensatz zu den frühen 2000er Jahren, als die Gewinne in den Sektoren Technologie und Nicht-Basiskonsumgüter stärker fielen als die Erträge im Energie- und Finanzsektor (Abbildung 2).
ABBILDUNG 2: MSCI WORLD – RÜCKGANG DES HISTORISCHEN REALISIERTEN GEWINNS JE AKTIE, NACH SEKTOR
Rückgang vom Höchstwert in %
Quelle: IBES, MSCI, Refinitiv Datastream, J.P. Morgan Asset Management. Der historische Gewinn je Aktie ist in US-Dollar angegeben. Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Daten zum 30. April 2020.
Bisher haben sich Wachstumswerte in dieser Rezession jedoch besser entwickelt als Substanzwerte, da die Gewinnerwartungen für letztere stärker gesunken sind als für Wachstumswerte, und der Bewertungsaufschlag für Wachstumswerte hat sich im Vergleich zu den Substanzwerten nicht verringert.
Das Ungewöhnliche an dieser Rezession ist natürlich, dass ihre Ursache darin liegt, dass die Menschen gezwungen sind, zu Hause zu bleiben. Daher werden einige Wachstumswerte in den Sektoren Technologie, Nicht-Basiskonsumgüter und Kommunikationsdienste als Nutznießer der aktuellen Verschiebung hin zum Homeoffice und Online-Handel wahrgenommen. Es besteht auch die Einschätzung, dass die aktuelle Situation zu einer längerfristigen Verschiebung hin zu mehr Arbeit im Homeoffice und zu einer Beschleunigung des aktuellen Trends zu mehr Online-Konsum und -Werbung führen wird.
Indessen leiden einige zyklische substanzabhängige Branchen wie der Energiesektor unter dem ungewöhnlich starken Rückgang der Nachfrage nach Öl, während Finanztitel durch niedrigere Zinssätze und die Sorgen über mögliche Kreditausfälle belastet werden (Abbildung 3).
ABBILDUNG 3: MSCI WORLD – SEKTORPERFORMANCE SEIT JAHRESBEGINN
Kursrendite in %
Quelle: MSCI, Refinitiv Datastream, J.P. Morgan Asset Management. Kursrendite in US-Dollar. Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Daten zum 30. April 2020.
Zweifelsohne wird diese ungewöhnliche Art der Rezession einige Substanzwerte besonders hart treffen. Aber kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass einige zyklische Wachstumswerte von dieser Rezession weniger stark betroffen sein werden oder sogar davon profitieren könnten, weil sich das Arbeiten und Einkaufen ins Internet verlagert?
Sind Wachstumswerte wirklich so defensiv wie angenommen?
Ende April gehen die Konsenserwartungen davon aus, dass die Gewinne für den US Russell 1000 Growth Index bis Ende 2021 um 19 % höher sein werden als Ende 2019. Den Erwartungen zufolge werden die Gewinne im Technologiesektor um 18 % höher und im Bereich zyklische Konsumgüter im gleichen Zeitraum um etwa 4 % höher sein, wozu auch der Online-Einzelhandel beitragen dürfte.
Es ist denkbar, dass diese Gewinnerwartungen dank einer höhere Nachfrage nach Cloud Computing, Online-Einzelhandel und Online-Werbung erfüllt werden könnten. Wenn diese Rezession jedoch eine Delle in den Bilanzen der Verbraucher und Unternehmen hinterlässt, könnten die Gesamtausgaben der Haushalte und Unternehmen eine Zeit lang niedriger ausfallen.
Es ist daher möglicherweise zu optimistisch, davon auszugehen, dass Technologie-, Online-Basiskonsumgüter- und Online- Werbeunternehmen vor einem rezessiven Hintergrund weiterhin ein starkes Wachstum erzielen werden. Zwar sind einige dieser Wachstumsunternehmen möglicherweise in der Lage, ein größeres Kuchenstück von den Gewinnen abzuschneiden, am Ende könnte aber der Kuchen selbst kleiner ausfallen. Es besteht die Gefahr, dass sich die Märkte bisher mehr auf die Kuchenstücke und nicht genug die Gesamtgröße des Kuchens konzentriert haben.
Der springende Punkt ist, dass in einer Rezession die Gesamtausgaben der Haushalte und Unternehmen tendenziell zurückgehen, und es ist unklar, inwieweit Technologie- und Online- Unternehmen diesen Rückgang in den kommenden Quartalen kompensieren können. Diese Rezession wird ein sehr guter Test dafür sein, ob einige Technologie- und Online-Geschäftsmodelle wirklich so defensiv sind, wie der Markt derzeit glaubt.
Im Gegensatz zum Optimismus bezüglich der Aussichten für Wachstumswerte enthalten die Gewinnerwartungen für einige Sektoren, die den stärksten Abverkauf erlebt haben, wie z. B. Energie, bereits eine Menge schlechter Nachrichten (Abbildung 4).
ABBILDUNG 4: MSCI WORLD ENERGY/IT – PROGNOSTIZIERTER GEWINN JE AKTIE IN DEN KOMMENDEN 12 MONATEN
Indexniveau, im Jahr 1995 auf 100 umbasiert
Quelle: IBES, MSCI, Refinitiv Datastream, J.P. Morgan Asset Management. Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Daten zum 30. April 2020.
Achten Sie darauf, keine überhöhten Preise zu bezahlen. Nicht nur, dass die Gewinnerwartungen für einige Wachstumswerte nach wie vor hoch sind – selbst wenn diese starken Gewinnwachstumserwartungen erfüllt werden, sehen die Bewertungen von Wachstumswerten im Vergleich zu den während der letzten Rezession erreichten Niveaus recht hoch aus. Selbst wenn sich also Wachstumsunternehmen als deutlich widerstandsfähiger gegenüber dieser Rezession erweisen und langfristig bessere Wachstumsaussichten bieten sollten als einige substanzbasierte Unternehmen, könnte dies bereits eingepreist sein.
Es liegt auf der Hand, dass es bei der Suche nach guten Anlagen nicht nur darum geht, Unternehmen zu finden, die florieren können, sondern auch solche, die die Erwartungen übertreffen können. Niemand bezweifelt zum Beispiel, dass die neuseeländische Rugby-Union-Nationalmannschaft All Blacks eines der größten Sportteams der Geschichte ist. Das bedeutet aber nicht, dass es für das Team leicht ist, die Erwartungen zu übertreffen und praktisch jedes Spiel zu gewinnen.
Angesichts der Wahl zwischen preiswerten Wachstumswerten und nur geringfügig günstigeren Substanzwerten mit weniger langfristigem Wachstumspotenzial als 2008 hätte man im Nachhinein natürlich die Wachstumswerte wählen sollen. Die Wahl ist heute allerdings viel weniger offensichtlich, da bei der Bewertung von Wachstumswerten bereits viele gute Nachrichten einbezogen wurden (Abbildung 5).
ABBILDUNG 5: MSCI WORLD GROWTH/VALUE – PROGNOSTIZIERTES KURSGEWINN- VERHÄLTNIS (KGV)
Kurs ggü. prognostizierten Konsens-Gewinnerwartungen in den kommenden 12 Monaten
Quelle: MSCI, Refinitiv Datastream, J.P. Morgan Asset Management. Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Daten zum 30. April 2020.
Welche Titel werden bei der Erholung den Ton angeben?
Wenn die Social Distancing-Maßnahmen schließlich nachhaltig aufgehoben werden, könnten diejenigen Unternehmen, die hart getroffen wurden, ein viel stärkeres Gewinnwachstum erleben als Unternehmen, deren Gewinne sich während der Rezession als defensiv erwiesen haben. Sobald die Rezession vorbei ist, werden wir zudem herausfinden, wie viel des derzeitigen Marktanteilsgewinns der Online-Unternehmen von Dauer ist. Zum Beispiel arbeiten wir möglicherweise weiterhin häufiger als früher von zu Hause aus, erledigen aber einige unserer Einkäufe wieder offline.
Natürlich werden die Unternehmen, die nicht überleben, keinen Aufschwung erleben. Daher ist die Konzentration auf hochwertige Unternehmen mit starken Bilanzen und Überlebenspotenzial unerlässlich, um Wertfallen zu vermeiden. Zum Beispiel könnten einige Ölgesellschaften diese Rezession nicht überleben. Mit Blick auf die nächsten Jahre erscheint es jedoch unwahrscheinlich, dass die Ölpreise so niedrig wie zurzeit bleiben werden. Wenn die Ölpreise steigen, könnten die derzeit stark gebeutelten Energieunternehmen, die es schaffen zu überleben, eine starke Kursrally erleben. Wie Abbildung 6 zeigt, hat der Rückgang der Rohstoffpreise Substanzwerten geschadet, aber wenn die Rohstoffpreise wieder steigen, war dies oft gut für ihre relative Performance.
ABBILDUNG 6: MSCI WORLD VALUE/GROWTH – RELATIVE PERFORMANCE UND CRB-ROHSTOFFINDEX
Relatives Indexniveau, im Jahr 1977 auf 100 umbasiert (links); Indexstand (rechts)
Quelle: MSCI, CRB, Refinitiv Datastream, J.P. Morgan Asset Management. Die Indexstände werden anhand der Kursindizes in Lokalwährung berechnet. Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Daten zum 30. April 2020.
Dennoch sollte man sich darüber im Klaren sein, dass in einigen Regionen Öl- und Rohstoffproduzenten nur einen kleinen Teil des Marktes ausmachen und daher allein möglicherweise nicht ausreichen, um zu einer Outperformance der Indizes für Substanzwerte zu führen.
Eine weitere Sache, die den Substanzwerten geschadet hat, war die schlechte Performance der Finanzwerte, die einen großen Teil der meisten Substanz-Indizes ausmachen. Substanzwerte entwickeln sich tendenziell unterdurchschnittlich, wenn die Zinsen fallen, und überdurchschnittlich, wenn die Zinsen steigen. Der jüngste Rückgang der Zinssätze sowie die Erwartung, dass die Gewinne des Finanzsektors von der Rezession betroffen sein werden, haben also ebenfalls zur Underperformance der Substanzwerte beigetragen (Abbildung 7).
ABBILDUNG 7: MSCI WORLD VALUE/GROWTH – RELATIVE PERFORMANCE UND RENDITE DER ZWEIJÄHRIGEN US-TREASURIES
Relatives Indexniveau, im Jahr 1977 auf 100 umbasiert (links); Rendite in % (rechts)
Quelle: MSCI, Refinitiv Datastream, J.P. Morgan Asset Management. Die Indexstände werden anhand der Kursindizes in Lokalwährung berechnet. Die historische Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Daten zum 30. April 2020.
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen könnten eine Hürde für Finanzwerte bleiben, wenn die Zinsen lange Zeit niedrig bleiben, wie dies nach der letzten Rezession der Fall war. Aber zumindest dürften die Zinssätze nicht mehr viel weiter sinken. Und sobald die Rezession vorbei ist, werden die Rückstellungen zur Risikovorsorge abgebaut werden, was die Rentabilität der Banken befeuern wird, selbst wenn die Zinsen nicht steigen.
Erwähnenswert ist auch, dass in den Jahren 2000-2002, als das KGV der Wachstumswerte nach den Exzessen der Dotcom-Blase zurückging, die Substanzwerte trotz sinkender Zinsen besser abschnitten als die Wachstumswerte. Die Substanzwerte brauchen also nicht immer höhere Zinssätze, um eine Outperformance zu erzielen.
Dennoch sollte man sich darüber im Klaren sein, dass es für Substanzindizes angesichts der großen Gewichtung von Finanztiteln in den meisten Substanzindizes schwierig sein wird, die Wachstumsindizes zu übertreffen, solange die Finanztitel nicht beginnen, sich besser zu entwickeln. Sollten sich die Finanzindizes weiterhin schlechter entwickeln als der Markt, ist möglicherweise ein selektiverer Ansatz innerhalb der Substanzwerte und -Sektoren vonnöten.
Setzen Sie nicht alles auf eine Karte
Es ist nicht klar, wann Substanzwerte wieder eine Outperformance erzielen werden, und sie sehen sich potenziellen Hindernissen gegenüber, z. B. niedrigen Zinssätzen. Aber alles darauf zu setzen, dass Wachstumswerte weiterhin eine Outperformance erzielen werden, insbesondere, wenn die Bewertungen hoch sind, ist mit eigenen Risiken verbunden. Das letzte Mal, als Wachstumswerte die Substanzwerte derart deutlich übertrafen, war vor dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000. Substanzwerte entwickelten sich in den darauf folgenden sieben Jahren besser als Wachstumswerte und die anfängliche Underperformance letzterer war schnell und schmerzhaft.
Während also die Aussichten unsicher sind, glauben wir, dass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen angemessen bewerteten Wachstums- und hochwertigen Substanzwerten in den Portfolios sinnvoller sein könnte, als alle Eier in den Wachstumskorb zu legen.
1 Siehe „Negativzinsen: Wie lange werden sie andauern? Was bedeuten sie für Sparer?“ (Was bewegt die Anleger?, 3. September 2019).
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