…wir erleben gegenwärtig einen extremen Angebots- und Nachfrageschock, der die Ölpreise auf ein Mehrjahrestief geschickt hat.
Tilmann Galler
Steigende Fördermengen und der Zusammenbruch der Nachfrage aufgrund der COVID-19-Pandemie verursachen ein beispielloses Überangebot am Ölmarkt. Das führt dazu, dass wir gegenwärtig einen extremen Angebots- und Nachfrageschock erleben, der die Ölpreise auf ein Mehrjahrestief geschickt hat.
Bei den derzeitigen Produktionsmengen wird die globale Kapazität der Öllager bis zum Ende des zweiten Quartals voll ausgeschöpft sein. Diese Situation übt bereits jetzt Preisdruck an den Förderquellen aus, wo es den Produzenten immer schwerer fällt, ihre Fördermengen abzusetzen. Demzufolge haben Energieaktien an den globalen Aktienmärkten im bisherigen Jahresverlauf die schlechteste Performance vorgelegt, und die Credit Spreads bei Energiegesellschaften ohne Investment Grade haben sich dramatisch ausgeweitet. Beides signalisiert die zunehmende Sorge um die Solvenz des Sektors.
Die führenden ölproduzierenden Länder haben sich jetzt auf eine Senkung der Fördermengen geeinigt, um die Krise abzuwenden. Aber wird ihr Handeln ausreichen, um den Ölmarkt ins Gleichgewicht zu bringen? Und welche Auswirkungen ergeben sich für Anleger?
Beispielloser Rückgang der Ölnachfrage
Die COVID-19-Pandemie hat weltweit zu rigorosen Maßnahmen zur Einschränkung der Verbreitung des Virus geführt. Reisebeschränkungen, Social Distancing und Ausgangssperren haben die globale Nachfrage nach Öl im ersten Quartal 2020 gegenüber dem ersten Quartal 2019 um schätzungsweise 5,6 Millionen Barrel pro Tag (mb/d) reduziert. Diese Situation dürfte sich im zweiten Quartal noch weiter verschärfen
Der stärkste Einbruch der Ölnachfrage wird im April und Mai erwartet, mit einem durchschnittlichen Rückgang von 20 mb/d. Selbst in einem Szenario, in dem die globalen COVID-19-Beschränkungen schrittweise bis Ende Mai aufgehoben werden, schätzen die US-Energiebehörde Energy Information Agency (EIA) sowie die International Energie Agency (IEA) den Nachfrageverlust bei Öl für das Jahr 2020 auf 5,2 mb/d bis 9,3 mb/d.
Einblick in die Dimension dieser Zahl bietet der Vergleich mit dem Jahr 2009, dem Jahr der letzten globalen Rezession, in dem die Ölnachfrage um 0,8 mb/d sank.
Abbildung 1 verdeutlicht, dass nahezu 58 % der globalen Ölnachfrage auf Kraftstoff für das Transportwesen zurückzuführen ist. Die Folgen für die Nachfrage und damit den Ölmarkt sind wegen der allgemeinen Einführung von Reisebeschränkungen, die einen Rückgang des Flugverkehrs bis März um 30 % weltweit verursacht haben, wesentlich schwerwiegender als in einer normalen Rezession. Die verhängten Quarantänemaßnahmen haben auch zu einer bedeutenden Verringerung des Straßenverkehrs um rund 40 % und damit zu einer erheblich geringeren Nachfrage nach Benzin und Diesel geführt.
Einzigartige Vereinbarung über Produktionskürzung
Das Ungleichgewicht an den Ölmärkten verschärfte sich Anfang März, als sich Russland und Saudi-Arabien nicht auf eine Kürzung der Fördermengen einigen konnten. Tatsächlich geschah genau das Gegenteil, als Saudi-Arabien als Vergeltungsmaßnahme durch Rabatte bei seinen Rohölexporten einen Preiskrieg vom Zaun brach und für den April eine Produktionssteigerung ankündigte. Der heftige Absturz der Ölnachfrage und die rasant steigenden Füllstände der Lager haben die wichtigsten Produzenten der Welt jedoch inzwischen zu einer Kursumkehr bewegt.
Am Ostersonntag haben sich die Mitglieder der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) und die wichtigsten, nicht zur OPEC gehörenden Ölproduzenten (auch als OPEC+ bezeichnet) auf einen historisch einzigartigen Schnitt der Fördermengen geeinigt, um die Schwemme einzudämmen. Die Ölproduktion wird ab dem 1. Mai um 9,7 mb/d verringert. Daran anschließend wird die Gruppe die Förderkürzungen schrittweise im Juli um 2,1 mb/d und im Januar 2021 um weitere 2,0 mb/d reduzieren. Die verbleibende Kürzung um 5,6 mb/d wird bis zum Ende des Abkommens im April 2022 in Kraft bleiben. In Abbildung 2 sind die wichtigsten Ölproduzenten und ihre aktuellen Produktionsmengen dargestellt, um die Kürzungen in ein Verhältnis zu setzen.
Trotz des beispiellosen Umfangs der Ankündigung hat es den Anschein, als seien die vereinbarten Produktionseinschnitte nicht massiv genug, um den starken Nachfragerückgang, der in den nächsten Monaten erwartet wird, auszugleichen. Die Herstellung eines sofortigen Gleichgewichts am Ölmarkt war allerdings auch nie ein realistisches Ergebnis, weil die nicht zur OPEC gehörenden Ölproduzenten, die höhere Kosten haben, sich dabei nicht in gleicher Höhe an der Belastung durch die Produktionskürzungen hätten beteiligen müssen. Auf kurze Sicht werden die Öllagerbestände also weiterhin steigen, was in den kommenden Monaten weiteren Druck auf die Ölpreise ausüben dürfte.
Wenn sich die Produzenten allerdings an das Abkommen halten und die großen globalen Volkswirtschaften bis Anfang Juni ihre mit COVID-19 verbundenen Shutdown-Maßnahmen zu lockern begonnen haben, sollte sich die Ölnachfrage allmählich wieder normalisieren. In diesem Fall könnten sich die Fundamentaldaten an den Ölmärkten in der zweiten Jahreshälfte verbessern. In diesem konstruktiven Szenario wäre es möglich, dass der Ölmarkt bis September 2020 wieder ins Gleichgewicht kommt.
Was bedeutet dies für Anleger?
Anleger, die in Aktien und Rentenwerte aus dem Energiesektor investieren, können von einer Reihe weiterer schwieriger Monate mit ungünstigen Fundamentaldaten und Problemmeldungen ausgehen. Die Unternehmensgewinne werden voraussichtlich weiter fallen, und zunächst wird die Wahrung von Liquidität eine Hauptaufgabe bleiben.
Allerdings wird gerade in problematischen Phasen wie der gegenwärtigen häufig die Grundlage für den nächsten Aufschwung gelegt. Schwache Marktteilnehmer scheiden aus und Explorationsfirmen reduzieren ihren Investitionsaufwand erheblich. Die Projekte, die heute aufgegeben werden, fehlen dann drei Jahre später. Die Unternehmen, die diese „große Schwemme“ überdauern, können also möglicherweise in den nächsten fünf Jahren mit einem Ölmarkt rechnen, der ausgewogener ist als in den letzten fünf Jahren.